Der Schattenkrieg kehrt heim: Ein Schusswechsel in Washington und die politische Anatomie einer Tragödie

Illustration: KI-generiert

Es ist eine Tragödie, die sich wie ein dunkles Echo eines längst beendeten Krieges in die Straßen von Washington, D.C. geschlichen hat, ausgerechnet am Vorabend des amerikanischen Erntedankfestes. Zwei junge Menschen in Uniform, stationiert an einer belebten Straßenecke der Hauptstadt, werden aus dem Nichts attackiert. Sarah Beckstrom, erst 20 Jahre alt und voller Träume von einer Karriere beim FBI, überlebte den Hinterhalt nicht; sie starb an einer „tödlichen Wunde“, die ihr Leben beendete, bevor es richtig begonnen hatte. Ihr Kollege, Andrew Wolfe, 24 Jahre alt, kämpft auf der Intensivstation um sein Leben.

Doch was als grausamer Gewaltakt eines Einzelnen begann, hat sich innerhalb von Stunden in ein politisches Großereignis verwandelt, das die ohnehin tiefen Gräben der amerikanischen Gesellschaft weiter aufreißt. Der mutmaßliche Schütze, Rahmanullah Lakanwal, ist kein Unbekannter im Getriebe der US-Außenpolitik. Er ist ein Produkt genau jenes Krieges, den Amerika in Afghanistan führte – und verlor. Als ehemaliges Mitglied einer von der CIA finanzierten und trainierten paramilitärischen Einheit, einer sogenannten „Zero Unit“, war er Teil der Speerspitze im Kampf gegen den Terror. Dass nun ausgerechnet ein Mann, der einst Seite an Seite mit amerikanischen Kräften kämpfte, das Feuer auf US-Soldaten im eigenen Land eröffnet, wirkt wie eine zynische Pointe der Geschichte.

Die Reaktion der politischen Maschinerie folgte prompt und mit einer Härte, die wenig Raum für Trauer oder differenzierte Ursachenforschung lässt. Die Tat eines Mannes, der Berichten zufolge unter schweren psychischen Problemen litt und von den Geistern seiner blutigen Vergangenheit verfolgt wurde, dient nun als Katalysator für eine radikale Neuausrichtung der amerikanischen Migrationspolitik.

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Die Anatomie des Täters: Vom „Schattenkrieger“ zum Attentäter

Um die Wucht dieses Ereignisses zu verstehen, muss man in die Biografie von Rahmanullah Lakanwal blicken. Er wuchs im Krieg auf, in der Provinz Khost, und schloss sich als junger Mann den „Zero Units“ an. Diese Einheiten operierten im Verborgenen, formell Teil des afghanischen Geheimdienstes, faktisch aber Instrumente der CIA, die sie rekrutierte, ausrüstete und bezahlte. Sie waren spezialisiert auf nächtliche Razzien und klandestine Missionen, Operationen, die oft jenseits der regulären Befehlsketten stattfanden und ihnen bei Menschenrechtsgruppen den Ruf von „Todeskommandos“ einbrachten.

Es ist eine bittere Ironie, dass genau diese Nähe zu den amerikanischen Sicherheitsbehörden Lakanwal das Ticket in die USA verschaffte. Als die Regierung in Kabul 2021 fiel und die Taliban die Macht übernahmen, spielten die Zero Units eine Schlüsselrolle bei der Sicherung des Flughafens und der Evakuierung – und sicherten sich so ihre eigene Flucht. Lakanwal kam über die „Operation Allies Welcome“ ins Land, ein Programm, das Tausende Afghanen rettete, die als Verbündete galten.

Doch der Krieg verließ Lakanwal nicht, als er amerikanischen Boden betrat. Freunde beschreiben ihn als einen Mann, der unter der Last des Gesehenen und Getanen zerbrach. Er habe das Blut und die Leichen nicht mehr ertragen können, berichtete ein Jugendfreund; die psychische Belastung durch die Operationen seiner Einheit habe ihn verfolgt. Selbst Donald Trump bezeichnete den Täter als „cuckoo“ und „nuts“ – verrückt. Diese individuelle Pathologie, die Geschichte eines Mannes, der, wie es heißt, „am Ende“ war, kollidiert nun frontal mit der politischen Erzählung, die ihn nicht als traumatisierten Veteranen eines schmutzigen Krieges, sondern als Symbol für ein gescheitertes Einwanderungssystem darstellt.

Der politische Reflex: Von der Einzeltat zur Kollektivstrafe

Die politische Reaktion auf die Schüsse von Washington gleicht einer Schockwelle, die weit über den Tatort hinausreicht. Die Trump-Administration nutzte den Vorfall umgehend, um das Narrativ einer außer Kontrolle geratenen Einwanderung zu bedienen. Noch während die Familien der Opfer trauerten, wurde der Fall zum Exempel statuiert. Die Rhetorik ist unmissverständlich: Die Grenzen seien unter der Vorgängerregierung zu durchlässig gewesen, das „Vetting“ – die Sicherheitsüberprüfung – habe versagt.

Dabei offenbart sich bei genauerem Hinsehen ein komplexes Spannungsfeld. Zwar reiste Lakanwal unter der Biden-Administration ein, doch sein Asylstatus wurde ihm erst im April dieses Jahres gewährt – zu einer Zeit, als die aktuelle Administration bereits im Amt war. Dass die Behörden nun die Überprüfung der Biden-Ära als „massives Versagen“ brandmarken, während der finale rechtliche Schutzstatus unter ihrer eigenen Ägide erteilt wurde, ist ein politisches Paradoxon, das in der hitzigen Debatte kaum Gehör findet.

Die Konsequenzen sind drastisch: Als direkte Antwort auf die Tat eines Einzelnen kündigte die Einwanderungsbehörde USCIS an, die Bearbeitung aller Einwanderungsanträge afghanischer Staatsbürger zu stoppen. Mehr noch: Es soll eine „rigorose Neuprüfung“ jeder Green Card und jedes Asylstatus für Menschen aus 19 als „besorgniserregend“ eingestuften Ländern geben. Diese Liste, die neben Afghanistan auch Länder wie Haiti und Venezuela umfasst, wird nun zur Grundlage eines administrativen Generalverdachts. Es ist der Übergang von der Strafverfolgung eines Täters zur präventiven Sanktionierung ganzer Bevölkerungsgruppen – eine Form der Kollektivhaftung, die tiefgreifende juristische und ethische Fragen aufwirft.

Das Vetting-Dilemma: Sicherheit im Chaos

Im Zentrum der Kritik steht das Überprüfungsverfahren, das Lakanwal den Weg in die USA ebnete. Theoretisch ist der Prozess engmaschig: Biometrische Daten, Abgleiche mit Terrorlisten, Interviews durch Geheimdienstprofis. Doch Berichte des Generalinspekteurs des Heimatschutzministeriums legen offen, dass im Chaos des Abzugs von 2021 Lücken klafften. Namen, Geburtsdaten oder Reisedokumente waren teils unvollständig oder fehlerhaft.

Dennoch bleibt die Frage: Hätte ein besseres Screening die Tat verhindert? Lakanwal war kein Unbekannter, der durchs Raster schlüpfte, sondern ein Mann, dessen Identität und Loyalität durch seine Arbeit für die CIA vermeintlich verbürgt waren. CIA-Direktor John Ratcliffe erklärte zwar, der Täter hätte „niemals hierherkommen dürfen“, doch diese Aussage steht im Widerspruch zur damaligen Realität, in der genau diese Männer als unverzichtbare Partner galten. Es scheint, als werde hier nachträglich die Komplexität einer jahrzehntelangen militärischen Kooperation auf eine simple Freund-Feind-Schablone reduziert, um politisches Kapital zu schlagen.

Die Angst in der Community: Ein Leben auf Abruf

Für die afghanische Gemeinschaft in den USA hat sich die Atmosphäre über Nacht dramatisch verdüstert. Menschen, die einst als Dolmetscher, Ingenieure oder Soldaten ihr Leben für US-Interessen riskierten, sehen sich nun einer Rhetorik ausgesetzt, die sie pauschal als Sicherheitsrisiko markiert. Flüchtlingsorganisationen und Veteranenverbände wie #AfghanEvac warnen eindringlich davor, die Taten eines „verwirrten Mannes“ auf eine ganze Gemeinschaft zu projizieren, die sich durch eine der strengsten Sicherheitsüberprüfungen überhaupt qualifiziert hat.

Die Angst ist greifbar. Familien, die sich in Sicherheit wähnten, fürchten um ihren Aufenthaltsstatus. Ein afghanischer Fluglotse, der 2021 evakuiert wurde, fasste die Stimmung treffend zusammen: „Eine Person, und nun wird eine ganze Gemeinschaft dafür bezahlen?“. Es ist die Furcht vor dem Verlust der neuen Heimat, vor einer „Denaturalization“ – der Aberkennung der Staatsbürgerschaft –, die als Drohkulisse im Raum steht, auch wenn rechtliche Hürden hoch sind und Donald Trump selbst einräumte, dass es „sehr schwer ist, sie wieder rauszubekommen“.

Diese Politik der verbrannten Erde birgt ein strategisches Risiko, das weit über die Innenpolitik hinausreicht. Wenn die USA beginnen, ihre ehemaligen Verbündeten pauschal zu kriminalisieren, senden sie ein verheerendes Signal an potenzielle Partner in zukünftigen Konflikten. Das Vertrauen, dass Kooperation Schutz bedeutet, wird fundamental erschüttert. Ehemalige CIA-Offiziere und Militärs, die mit den Afghanen kämpften, betonen deren unverzichtbare Rolle und Loyalität – ein Narrativ, das im aktuellen politischen Sturm unterzugehen droht.

Der Einsatz in D.C.: Militär als Polizei?

Ein weiterer, nicht minder brisanter Aspekt dieser Tragödie ist der Kontext, in dem sie stattfand. Die beiden Opfer waren Teil eines massiven Aufgebots der Nationalgarde, das auf Anweisung des Präsidenten in Washington patrouillierte, um Kriminalität zu bekämpfen. Dieser Einsatz ist hochumstritten. Lokale Behörden und Gerichte zweifeln die Legalität der Maßnahme an; ein Bundesrichter hatte die Stationierung sogar vorläufig als wahrscheinlich illegal eingestuft.

Die Bürgermeisterin von Washington, Muriel Bowser, brachte es auf den Punkt: „Diese jungen Leute sollten zu Hause bei ihren Familien in West Virginia sein“. Die Frage drängt sich auf, ob die Soldaten durch diesen politisch motivierten Einsatz unnötig exponiert wurden. Sie patrouillierten an einer Metro-Station, mitten im zivilen Leben, als Symbol einer militarisierten Innenpolitik. Dass sie nun Opfer eines Mannes wurden, der durch das Raster der Außenpolitik fiel, verknüpft zwei kontroverse Stränge der Trump-Ära auf tragische Weise: die aggressive Migrationspolitik und den Einsatz des Militärs im Inneren.

Ein Land im Spiegel seiner Gewalt

Es bleibt die Frage nach dem „Warum“, die über den psychischen Zustand des Täters hinausgeht. War es ein terroristischer Akt? Ein Ausbruch von Wahnsinn? Die Behörden ermitteln wegen Angriff mit Tötungsabsicht, und nach dem Tod von Sarah Beckstrom wird die Anklage auf Mord ersten Grades erweitert. Doch unabhängig vom juristischen Etikett offenbart der Fall eine tiefe Zerrissenheit.

Während politische Akteure wie Senator Tommy Tuberville pauschale Abschiebungen und Einreiseverbote fordern und Vize-Präsident JD Vance von einem „klärenden Moment“ spricht, der seine Warnungen bestätige, versuchen andere, die Menschlichkeit zu wahren. Die Rufe nach Differenzierung verhallen jedoch zunehmend in einem Echoraum, der komplexe Probleme mit radikalen Lösungen beantworten will. Es gibt bislang keine empirischen Belege dafür, dass Flüchtlinge aus den 19 sanktionierten Ländern eine überproportionale Gefahr darstellen, doch in der Logik des politischen Kampfes zählen Fakten oft weniger als gefühlte Bedrohungen.

Ausblick: Die Erosion des Zusammenhalts

Was bleibt, ist der Schmerz der Familien in West Virginia, deren Kinder in einem Einsatz fielen, dessen Notwendigkeit juristisch und politisch umstritten ist. Sarah Beckstroms Vater sprach von einer „tödlichen Wunde“ – ein Satz, der metaphorisch für den Zustand der Nation stehen könnte.

Die Verknüpfung von militärischen Inlandseinsätzen mit einer verschärften Anti-Migrations-Rhetorik droht, das zivile Zusammenleben langfristig zu vergiften. Wenn jeder Einwanderer potenziell ein Feind und jeder Soldat auf der Straße ein notwendiger Schutzwall gegen das „Chaos“ ist, schwindet der Raum für eine offene Gesellschaft. Die Alternative – gezielte Schließung tatsächlicher Sicherheitslücken statt pauschaler Verdächtigungen – scheint in der aktuellen Atmosphäre der Konfrontation kaum noch eine Option zu sein.

Der Schusswechsel in Washington ist mehr als ein Verbrechen. Er ist ein Brennglas, unter dem sich die ungelösten Konflikte der amerikanischen Außen- und Innenpolitik bündeln. Die Geister, die Amerika im Hindukusch rief, sind nicht verschwunden. Sie sind zurückgekehrt, und die Art und Weise, wie die Nation mit ihnen umgeht, wird definieren, wer sie in Zukunft sein will: ein Land der Gesetze und der Zuflucht oder eine Festung, die von Angst regiert wird.

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