
Die Untersuchung gegen Senator Mark Kelly markiert einen gefährlichen Wendepunkt in der amerikanischen Demokratie. Die Trump-Administration testet die Grenzen der Exekutivgewalt und verwandelt den Staatsapparat in ein Instrument der persönlichen Vergeltung, mit weitreichenden Folgen für die Gewaltenteilung.
Es beginnt oft mit Worten, die im digitalen Raum verhallen, bevor sie in der realen Welt eine Maschinerie in Gang setzen, deren Wucht kaum jemand vorhersehen konnte. Mark Kelly, Senator aus Arizona, ehemaliger Astronaut und hochdekorierter Navy-Captain, hielt es für eine Selbstverständlichkeit, vielleicht sogar für eine bürgerliche Pflicht. In einem Video, flankiert von fünf weiteren demokratischen Abgeordneten, erinnerte er die Angehörigen der Streitkräfte an einen Grundpfeiler ihres Eides: „Ihr könnt illegale Befehle verweigern. Ihr müsst illegale Befehle verweigern.“. Es war ein Appell an das Gewissen, geboren aus der Sorge vor einem Einsatz des Militärs im Inneren oder rechtlich fragwürdigen Operationen in der Karibik. Doch was als staatsbürgerliche Erinnerung gedacht war, hat eine Reaktion der Exekutive provoziert, die in der jüngeren amerikanischen Geschichte ihresgleichen sucht.
Wir werden derzeit Zeugen einer dramatischen Verschiebung der politischen Statik. Die Administration unter Donald Trump begnügt sich in ihrer zweiten Amtszeit nicht mehr mit rhetorischen Ausfällen. Sie hat begonnen, die Institutionen des Staates systematisch neu auszurichten, weg von ihrer Rolle als neutrale Hüter des Rechts, hin zu Werkzeugen einer politischen Agenda, die Loyalität über Legalität stellt. Der Fall Mark Kelly ist dabei mehr als eine persönliche Vendetta; er ist das Exempel, an dem demonstriert werden soll, wie weit der Arm des Präsidenten in die Legislative hineinreichen kann.

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Die Reaktivierung des Uniform Code: Ein Senator vor dem Kriegsgericht?
Das Herzstück dieser Eskalation ist der Versuch, die Militärjustiz gegen einen gewählten Volksvertreter in Stellung zu bringen. Verteidigungsminister Pete Hegseth, dessen eigene Eignung für das Amt von vielen Beobachtern kritisch hinterfragt wird, hat eine formelle Überprüfung eingeleitet, die darauf abzielt, Senator Kelly wegen seiner Äußerungen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Vorwurf wiegt schwer: Kelly habe durch die Nennung seines Ranges versucht, den Truppen einen Pseudo-Befehl zu erteilen und damit Zweifel und Verwirrung gesät, was die Sicherheit der Soldaten gefährde. Hegseth bezeichnete das Video als verabscheuungswürdig, rücksichtslos und falsch und stempelte die beteiligten Abgeordneten öffentlich als die „Seditious Six“, die aufrührerischen Sechs, ab.
Juristisch betritt die Administration hierbei extrem dünnes Eis, doch politisch ist das Signal eindeutig. Zwar sind pensionierte Offiziere, die nach 20 Dienstjahren Ruhegehalt beziehen, technisch gesehen weiterhin dem Uniform Code of Military Justice (UCMJ) unterworfen und können in den aktiven Dienst zurückberufen werden. Doch die Anwendung dieses Mechanismus auf politische Äußerungen eines Senators ist präzedenzlos. Experten für Militärrecht weisen darauf hin, dass eine Anklage wegen unwürdigen Verhaltens oder Aufruhrs kaum Bestand vor einem Gericht haben dürfte, da Kelly lediglich geltendes Recht und die Pflicht zum Ungehorsam bei illegalen Befehlen wiedergegeben hat. Zudem schützt die „Speech and Debate Clause“ der Verfassung Abgeordnete in der Regel vor strafrechtlicher Verfolgung für ihre parlamentarische Arbeit.
Dennoch darf man die Strategie hinter diesem Vorgehen nicht unterschätzen. Es geht nicht zwingend um eine Verurteilung. Der Prozess selbst ist die Bestrafung. Die Androhung, einen Senator, der 39 Kampfeinsätze im Golfkrieg geflogen ist, wie einen Befehlsverweigerer zu behandeln, zielt auf die Demontage seiner Reputation und die Einschüchterung potenzieller Nachahmer. Wenn Hegseth öffentlich darüber spottet, dass Kellys Orden auf einem Foto in der falschen Reihenfolge angebracht seien, und ankündigt, eine Rückberufung werde mit einer Uniforminspektion beginnen, offenbart dies eine Trivialisierung militärischer Disziplin zum Zwecke politischer Häme.
Der „Whole-of-Government“-Ansatz der Vergeltung
Der Fall Kelly steht nicht isoliert. Er ist das sichtbarste Symptom einer umfassenden Strategie, die man als „Whole-of-Government“-Ansatz der Vergeltung bezeichnen muss. Während in Trumps erster Amtszeit institutionelle Bremser wie General Mark Milley oder Verteidigungsminister Mark Esper die extremsten Impulse des Präsidenten, etwa die Rückberufung der kritischen Generäle McChrystal und McRaven, noch abwehren konnten, fehlen diese Sicherungen heute. Die neue Administration hat aus der Vergangenheit gelernt: Wo das Justizministerium als Werkzeug versagt, springen andere Behörden ein.
Dies zeigt sich in der beunruhigenden Synchronizität der Ereignisse. Fast zeitgleich mit der Ankündigung des Pentagon, gegen Kelly vorzugehen, leitete das FBI Schritte ein, um Interviews mit allen sechs an dem Video beteiligten Demokraten zu führen. Dass hierbei offenbar die Abteilung für Terrorismusbekämpfung involviert ist, verleiht dem Vorgang eine orwellsche Dimension. Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier staatliche Sicherheitsorgane instrumentalisiert werden, um politischen Dissens zu kriminalisieren. Die Abgeordneten selbst sprechen von einer gezielten Kampagne der Einschüchterung und Schikane durch den Präsidenten.
Die Muster sind erkennbar: Scheitert der frontale juristische Angriff, wird der Druck diversifiziert. Als ein Bundesrichter die Anklagen gegen den ehemaligen FBI-Direktor James Comey und die New Yorker Generalstaatsanwältin Letitia James wegen formeller Fehler verwarf, öffnete Verteidigungsminister Hegseth fast im selben Atemzug die neue Front gegen Kelly. Es ist ein ständiges Suchen nach Hebeln im Regierungsapparat, die sich gegen Gegner richten lassen, sei es durch das Pentagon, das FBI oder administrative Untersuchungen gegen Kritiker wie den Abgeordneten Eugene Vindman, dem nun Konflikte mit Gesetzen zu ausländischen Einkünften vorgeworfen werden.
Die Umdeutung von Loyalität und Gesetz
Im Zentrum dieses Konflikts steht ein fundamentaler Kampf um die Deutungshoheit über Begriffe wie Treue, Gesetz und Verrat. Das Video der Demokraten war eine Reaktion auf konkrete Ängste: Die Sorge, dass Trump das Militär gegen Proteste im eigenen Land einsetzen könnte, ein Szenario, das durch Trumps eigene Aussagen und Anfragen in seiner ersten Amtszeit, ob man Demonstranten nicht einfach in die Beine schießen könne, genährt wurde. Zudem werfen die laufenden Militärschläge gegen Drogenboote in der Karibik Fragen nach deren völkerrechtlicher Legalität auf, was Soldaten in eine juristische Grauzone bringt.
Indem die Administration diesen präventiven Hinweis auf die Rechtslage als „Sedition“ (Aufruhr) brandmarkt, verdreht sie die Logik des Rechtsstaates. Donald Trump selbst forderte auf seiner Plattform Truth Social, dass ein Exempel statuiert werden müsse, und teilte Beiträge, die nach dem Galgen für die Verräter riefen. Diese Rhetorik ist mehr als nur politisches Getöse; sie definiert Loyalität neu. Nicht mehr die Treue zur Verfassung ist das Maß aller Dinge, sondern die bedingungslose Gefolgschaft gegenüber dem Oberbefehlshaber, selbst wenn dessen Befehle die Grenzen des Legalen überschreiten könnten.
Die Administration versucht, das Narrativ zu etablieren, dass jeder Hinweis auf die Begrenzung präsidentieller Macht per se ein Akt der Illoyalität ist. Stephen Miller, ein stellvertretender Stabschef im Weißen Haus, bezeichnete die Aussagen der Senatoren als allgemeinen Aufruf zur Rebellion. Diese Hybris, das Gesetz mit dem Willen des Präsidenten gleichzusetzen, erinnert fatal an absolutistische Herrschaftsansprüche und steht im direkten Widerspruch zum Eid, den jeder Soldat auf die Verfassung, und nicht auf eine Person, ablegt.
Eine Bewährungsprobe für die Gewaltenteilung
Die kommenden Wochen werden zeigen, wie widerstandsfähig die amerikanischen Institutionen gegenüber dieser Strategie der Zermürbung sind. Dass republikanische Stimmen wie Senatorin Lisa Murkowski die Untersuchung als frivol bezeichnen und Kellys Dienst für das Land verteidigen, ist ein schwaches, aber wichtiges Signal, dass die parteiübergreifende Brandmauer noch nicht gänzlich gefallen ist. Doch die dominierende Dynamik ist die der Eskalation.
Die Gefahr liegt nicht nur in der möglichen Bestrafung einzelner Personen. Sie liegt in der schleichenden Normalisierung des Unvorstellbaren. Wenn das FBI bei Abgeordneten anklopft, weil sie ihre Meinung geäußert haben, und wenn das Pentagon prüft, ob es Senatoren degradieren kann, entsteht ein Klima der Angst, das weit über Washington hinauswirkt. Es ist ein Chilling Effect, der jeden Offizier, jeden Beamten und jeden kritischen Bürger zweimal überlegen lässt, bevor er sich zu Wort meldet.
Es ist eine bittere Ironie, dass Mark Kelly, der im Weltraum auf die fragile Schönheit der Erde blickte und im Cockpit eines Kampfjets sein Leben riskierte, nun zur Zielscheibe jenes Staates wird, dem er Jahrzehnte diente. Sein Fall illustriert, dass in der Logik der neuen Machtverhältnisse vergangene Verdienste keinen Schutz bieten, wenn sie nicht mit gegenwärtiger Unterwerfung gepaart sind. Der Kampf um die Deutungshoheit ist voll entbrannt: Ist der Hinweis auf das Recht ein Akt des Verrats? Oder ist die Verfolgung jener, die auf das Recht pochen, der eigentliche Verrat an den Werten der Nation? Die Antwort auf diese Frage wird das Gesicht der amerikanischen Republik in den kommenden Jahren prägen.


