
Während die US-Wirtschaft auf dem Papier goldene Zeiten erlebt, frisst eine schleichende „Alles-Rezession“ den Wohlstand der amerikanischen Haushalte auf. Im Zentrum eines Sturms aus KI-Hype, veralteter Infrastruktur und politischer Hilflosigkeit steht dabei nicht mehr der Benzinpreis, sondern die Stromrechnung – und sie droht, das politische Gefüge der Supermacht dauerhaft zu erschüttern.
Es ist eine bizarre Szenerie, die sich im Herbst 2025 bietet: Die makroökonomischen Indikatoren leuchten so hell wie lange nicht mehr. Das Bruttoinlandsprodukt der Vereinigten Staaten wächst mit beeindruckenden 3,8 Prozent pro Jahr, getrieben von einem kolossalen Investitionsrausch in Künstliche Intelligenz und technologische Infrastruktur. ChatGPT und seine digitalen Verwandten sind für die Hälfte dieses Wachstums verantwortlich. Doch wer den Blick von den Börsentickern abwendet und in die Wohnzimmer der Nation blickt, sieht eine andere Realität. Dort herrscht eine seltsame, rollende Rezession, die sich wie ein feines Gift durch die Gesellschaft frisst. Das Vertrauen der Verbraucher stürzt ab, die Arbeitslosigkeit tickt langsam nach oben, und eine Lähmung erfasst Sektor für Sektor. Inmitten dieses Widerspruchs hat sich ein neues Symbol der Angst etabliert: Es ist nicht mehr der Preis für ein Dutzend Eier, der die Wut der Wähler entfacht – es ist die monatliche Stromrechnung.

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Der Mythos der Schuldigen und die technische Realität
In der aufgeheizten Atmosphäre des politischen Diskurses werden schnell Sündenböcke für die explodierenden Energiekosten gefunden. Die Administration unter Präsident Trump zeigt mit dem Finger auf die Erneuerbaren Energien und verspricht, durch die Drosselung von Wind- und Solarprojekten die Preise zu halbieren. Auf der anderen Seite warnen Kritiker vor dem unersättlichen Energiehunger der neuen Rechenzentren, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Beide Erzählungen verfehlen jedoch den Kern der Wahrheit und dienen eher der politischen Mobilisierung als der Problemlösung.
Die nüchterne Analyse der Daten offenbart eine komplexere, weit weniger ideologische Ursache: Es sind die „Poles and Wires“ – die Masten und Drähte –, die den Amerikanern teuer zu stehen kommen. Während die Kosten für die reine Stromerzeugung seit 2005 dank billigem Fracking-Gas und effizienteren Technologien sogar gesunken sind, haben sich die Ausgaben für das Verteilnetz mehr als verdoppelt und die für das Übertragungsnetz fast verdreifacht. Das US-Stromnetz, ein alterndes Ungetüm, nähert sich dem Ende seiner Lebensdauer und muss dringend ersetzt werden. Hinzu kommen die astronomischen Kosten der Klimaanpassung. In Kalifornien etwa ist der Kampf gegen Waldbrände – das Vergraben von Leitungen und die Härtung der Infrastruktur – für 40 Prozent der Preisanstiege verantwortlich. Ähnliches gilt für Florida, wo Hurrikan-Sicherheit die Preise treibt.
Besonders faszinierend – und kontraintuitiv – ist die Rolle der viel gescholtenen Rechenzentren. Entgegen der landläufigen Meinung, dass ihr enormer Verbrauch die Preise für alle in die Höhe treibt, zeigen Studien das Gegenteil: In Regionen wie North Dakota, wo die Stromnachfrage durch Tech-Farmen um fast 40 Prozent explodierte, sanken die inflationsbereinigten Preise für Verbraucher sogar. Das ökonomische Prinzip dahinter ist simpel: Die immensen Fixkosten des Netzes werden auf eine größere Menge verkaufter Kilowattstunden verteilt, was die Belastung für den einzelnen Haushalt senken kann – vorausgesetzt, die Planung stimmt.
West Virginia: Das Scheitern der fossilen Renaissance
Nirgendwo wird die Diskrepanz zwischen politischen Versprechen und ökonomischer Härte deutlicher als in West Virginia, dem Herzen des amerikanischen Kohlebergbaus. Obwohl der Bundesstaat auf einem Ozean aus Kohle und Gas sitzt, sind die Strompreise hier fast doppelt so schnell gestiegen wie im nationalen Durchschnitt. Die Trump-Regierung versucht, mit administrativen Anordnungen und Millionensubventionen alternde Kohlekraftwerke am Netz zu halten, doch diese Strategie erweist sich als Falle für die Verbraucher.
Kohle ist heute schlichtweg teurer und ineffizienter als moderne Alternativen. Die Energieversorger sind in langfristigen Lieferverträgen gefangen und wälzen die Kosten für Wartung und den Betrieb unwirtschaftlicher Meiler auf die Kunden ab. Es entsteht eine perverse Situation: Die Bürger West Virginias zahlen die Zeche für den Erhalt einer Industrie, die ökonomisch kaum noch tragbar ist. Die Armutsfalle schnappt zu. Menschen wie Martec Washington aus Charleston stehen vor der brutalen Wahl, ob sie ihre Miete zahlen oder das Licht anlassen sollen. Die Versorger Appalachian Power und Wheeling Power schalteten im Jahr 2023 bei 56.000 Haushalten den Strom ab – eine Quote, die zehnmal höher liegt als in typischen Bundesstaaten. Hier zeigt sich die Schattenseite der „Energy Dominance“-Agenda: Sie zementiert Abhängigkeiten von teuren Technologien und hinterlässt bei den ärmsten Bürgern „Stranded Assets“ auf der Stromrechnung, die sie noch über Jahrzehnte abbezahlen müssen.
Wenn der Strompreis Wahlen entscheidet
Diese „Bezahlbarkeitskrise“ bleibt nicht ohne politische Folgen. Sie bricht alte Parteibindungen auf und zwingt Politiker in Bundesstaaten wie New Jersey und Virginia zu radikalen Manövern. In New Jersey, wo die Strompreise binnen eines Jahres um 22 Prozent in die Höhe schossen, dominiert das Thema den Gouverneurswahlkampf. Die Demokratin Mikie Sherrill sieht sich gezwungen, den Notstand auszurufen und Preisfrost zu versprechen – ein Instrument, das in marktwirtschaftlichen Kreisen eigentlich verpönt ist. Ihr republikanischer Herausforderer Jack Ciattarelli wiederum nutzt die Wut der Wähler, um gegen die Klimaziele des Bundesstaates zu mobilisieren, obwohl der Preisanstieg primär durch Kapazitätsauktionen des Netzbetreibers PJM verursacht wird, auf die der Gouverneur kaum Einfluss hat.
Das Phänomen ist systemisch: Wähler strafen Amtsinhaber für hohe Rechnungen ab, unabhängig von deren tatsächlicher Verantwortung. In Georgia verloren republikanische Amtsinhaber ihre Sitze in der Regulierungsbehörde an Demokraten, weil sie Preiserhöhungen durchgewinkt hatten – ein historischer Bruch in einer tiefroten Region. Die Loyalität zur Partei endet dort, wo das Haushaltsbudget kollabiert. Es ist eine Demokratie der leeren Geldbeutel, in der lokale ökonomische Schmerzen nationale ideologische Gräben zuschütten.
Die Rückkehr der verbotenen Ideen
In ihrer Verzweiflung greifen Politiker und sogar einige Ökonomen wieder zu Werkzeugen, die lange Zeit als ökonomische Häresie galten: Preiskontrollen. Angesichts eines „Affordability Conundrum“ – dem Rätsel der Bezahlbarkeit – argumentieren Befürworter, dass die klassischen Marktmechanismen zu langsam greifen. Angebotserweiterungen durch Deregulierung brauchen Jahre, doch die Wähler fordern Entlastung im Hier und Jetzt.
Die Idee ist verführerisch: Ein temporärer Deckel auf Mieten oder Strompreise könnte den sozialen Frieden sichern, während im Hintergrund die Angebotsseite durch Investitionen ausgebaut wird. Doch das Risiko ist immens. Wie die Geschichte der Nixon-Ära lehrt, führen künstliche Preisobergrenzen oft zu Mangelwirtschaft und Investitionsstau. Wenn der Preissignal-Mechanismus außer Kraft gesetzt wird, fehlt den Unternehmen der Anreiz, neue Kapazitäten zu schaffen. Dennoch scheint der politische Druck so groß, dass selbst moderate Demokraten bereit sind, dieses Risiko einzugehen, um ihre Wiederwahl nicht zu gefährden. Es ist der Versuch, Zeit zu kaufen – auf Kredit der zukünftigen Versorgungssicherheit.
Ein Winter der Ungewissheit
Die Situation wird durch das politische Chaos in Washington weiter verschärft. Der „Government Shutdown“ lähmt genau jene Mechanismen, die eigentlich als soziales Sicherheitsnetz dienen sollten. Bis zu 750.000 Bundesbedienstete werden in den Zwangsurlaub geschickt, was dem Wirtschaftskreislauf täglich 400 Millionen Dollar an Löhnen entzieht. Doch noch gravierender ist die Blockade der Hilfsprogramme.
Das „Low Income Home Energy Assistance Program“ (LIHEAP), die letzte Rettungsleine für Millionen arme Amerikaner, kann seine Mittel nicht rechtzeitig ausschütten. Da die Heizkosten in diesem Winter voraussichtlich um fast 8 Prozent steigen werden, droht eine humanitäre Katastrophe im eigenen Wohnzimmer. Die Mittelschicht, die bisher glaubte, gegen solche existenziellen Nöte immun zu sein, gerät zunehmend in den Strudel. Die Zahl der Menschen, die mit ihren Rechnungen in Verzug geraten, steigt auch in bürgerlichen Vororten. Es ist nicht mehr nur ein Problem der Armut, sondern ein Problem der breiten Masse. Wenn Familien, die 80.000 Dollar im Jahr verdienen, drei Jobs jonglieren müssen und dennoch ihre Stromrechnung nicht begleichen können, dann ist der Gesellschaftsvertrag brüchig geworden.
Fazit: Das Licht flackert
Die USA steuern auf ein Paradoxon zu: Sie sind eine technologische Supermacht, die die Zukunft der künstlichen Intelligenz definiert, aber nicht in der Lage ist, ihre Bürger im Winter zuverlässig und bezahlbar warmzuhalten. Während in den Serverfarmen die Prozessoren glühen und das Bruttoinlandsprodukt nach oben treiben, sitzen Familien in West Virginia und Pennsylvania im Dunkeln oder frieren in ihren Hoodies, um Geld zu sparen.
Diese „Alles-Rezession“ ist tückisch, weil sie sich nicht in den großen Schlagzeilen der Börsennachrichten abspielt, sondern im Kleingedruckten der Überweisungen. Die politische Klasse, ob in Washington oder in den Gouverneurspalästen, wirkt getrieben und hilflos gegenüber den strukturellen Defiziten eines jahrzehntelang vernachlässigten Netzes. Die kurzfristigen Lösungen – sei es die protektionistische Kohle-Romantik der Republikaner oder der interventionistische Preis-Deckel der Demokraten – sind Pflaster auf einer offenen Fraktur. Wenn der Strompreis weiter als politischer Brandbeschleuniger wirkt, könnte er bei den kommenden Wahlen mehr Sprengkraft entfalten als jede kulturelle Debatte. Denn am Ende des Monats ist die Dunkelheit für alle gleich, egal ob man rot oder blau wählt.


