
Während Kanzler Friedrich Merz und Präsident Emmanuel Macron auf glänzenden Gipfeln die digitale Unabhängigkeit Europas beschwören, demonstriert Washington brutal, wer den Ausschaltknopf für das moderne Leben wirklich besitzt. Der Fall eines sanktionierten französischen Richters entlarvt die europäische Autonomie als fragile Fassade.
Es sind Tage der großen Gesten und noch größeren Worte. Da stehen sie im brandenburgischen Nieselregen, in Lübbenau, und blicken auf das, was die Zukunft sein soll: ein gigantisches Rechenzentrum der Schwarz-Gruppe. Ein Monument aus Beton und Servern, das beweisen soll, dass der alte Kontinent noch lebt. Wenig später, auf dem Digitalgipfel in Berlin, warnen Bundeskanzler Friedrich Merz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fast beschwörend davor, zum Spielball der Supermächte zu werden. Sie sprechen von einer „Zeitenwende“, von der Notwendigkeit, endlich die digitale Fessel der USA und Chinas zu sprengen. Doch während in Berlin die Sektkorken auf die deutsch-französische Freundschaft knallen und Arbeitsgruppen gegründet werden, spielt sich weniger als 700 Kilometer westlich, in Den Haag, ein Drama ab, das diese Ambitionen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen lässt.
Dort sitzt Nicolas Guillou, ein französischer Richter am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), und erlebt am eigenen Leib, was es bedeutet, wenn die digitale Supermacht USA den Stecker zieht. Er wurde sanktioniert – nicht etwa, weil er ein Terrorist wäre, sondern weil er seinen Job machte. Die Folge ist eine digitale Auslöschung, die einem bürgerlichen Tod gleichkommt. Sein Fall ist das grelle Schlaglicht, das die Kluft zwischen dem europäischen Wunschtraum der „Souveränität“ und der harten Realität der Abhängigkeit gnadenlos ausleuchtet.

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Der Traum von der kognitiven Festung
Dabei klingt der Plan aus den Regierungszentralen in Berlin und Paris durchaus schlüssig, fast heroisch. Friedrich Merz und Emmanuel Macron haben erkannt, dass es nicht mehr nur um Stahl und Autos geht. Macron prägte den Begriff der „kognitiven Souveränität“. Es ist ein faszinierendes, wenngleich beunruhigendes Konzept: Es geht nicht mehr nur um Datenleitungen, sondern um die Hoheit über das Denken selbst. Der französische Präsident warnt davor, dass europäische Kinder täglich Stunden in den digitalen Ökosystemen US-amerikanischer oder chinesischer Plattformen verbringen – Räume, die nicht das Wohl der Europäer im Sinn haben. Wenn der Algorithmus, der die Welt erklärt, in Kalifornien oder Shenzhen programmiert wird, erodiert die kulturelle und geistige Eigenständigkeit Europas.
Um dieser schleichenden Übernahme entgegenzuwirken, setzen die beiden größten Volkswirtschaften der EU auf eine Doppelstrategie aus Regulierung und massiven Investitionen. Man will „aufholen“, bei Künstlicher Intelligenz, beim Cloud-Computing, bei der Mikroelektronik. Die Schwarz-Gruppe, bekannt für Lidl und Kaufland, wird hierbei zum unwahrscheinlichen Hoffnungsträger: Mit einer Investition von elf Milliarden Euro in Rechenzentren stampft der Handelsriese eine Infrastruktur aus dem Boden, die deutlich über das hinausgeht, was selbst Google zeitgleich in Deutschland investiert. Es ist der Versuch, „KI-Gigafactories“ zu schaffen – europäische Kathedralen der Rechenleistung, die unabhängig von Microsoft oder Amazon operieren sollen. Auch SAP schmiedet Allianzen, etwa mit dem französischen Anbieter Bleu, um kritische Daten in Krisenfällen vor dem Zugriff fremder Mächte zu schützen.
Doch diese Initiativen wirken wie der Bau von Sandburgen gegen eine steigende Flut, wenn man betrachtet, was geschieht, wenn Washington beschließt, seine digitale Macht als Waffe einzusetzen.
Der digitale Tod auf Knopfdruck
Der Fall Nicolas Guillou führt drastisch vor Augen, dass „digitale Souveränität“ keine abstrakte Floskel ist, sondern die Bedingung für die Teilnahme am modernen Leben. Nachdem die USA unter der Trump-Administration Sanktionen gegen Mitarbeiter des IStGH verhängt hatten, fand sich der Richter in einer Situation wieder, die er als „Rückfall in die 90er Jahre“ beschreibt. Doch diese Beschreibung ist fast noch zu harmlos. Es ist eher ein digitales Exil.
Von einem Tag auf den anderen wurden seine Konten bei US-Dienstleistern geschlossen. Amazon, Airbnb, PayPal – die digitalen Taktgeber des Alltags – kappten die Verbindung. Online gebuchte Reservierungen stornierten sich wie von Geisterhand selbst. Doch es traf ihn noch fundamentaler: Die Finanzadern wurden abgeklemmt. Da Visa und Mastercard ein Quasi-Monopol in Europa besitzen, funktionieren seine Kreditkarten nicht mehr. Selbst einfache Banküberweisungen werden zum Spießrutenlauf, sobald sie auch nur theoretisch US-Server berühren oder in Dollar abgewickelt werden könnten. Der Richter ist physisch frei, aber digital gefangen. Er kann nicht mehr einfach bezahlen, nicht mehr einfach reisen, nicht mehr einfach teilhaben.
Hier zeigt sich die brutale Effizienz dessen, was US-Außenminister Marco Rubio als legitime Verteidigung bezeichnet, Kritiker aber als „Lawfare“ – die Kriegsführung mit juristischen Mitteln – einstufen. Die Sanktionen gegen Guillou, die kanadische Richterin Kimberly Prost und weitere Ankläger sind die Rache für Ermittlungen gegen israelische Regierungsvertreter wie Benjamin Netanyahu und gegen das US-Militär in Afghanistan. Für die US-Regierung ist der Gerichtshof eine „Gefahr für die nationale Sicherheit“, eine politisierte Institution, die ihre Kompetenzen überschreitet, da weder die USA noch Israel dem Römischen Statut beigetreten sind.
Die Privatisierung der Außenpolitik
Das Erschreckende an diesem Vorgang ist nicht nur der politische Wille Washingtons, sondern der vorauseilende Gehorsam der Infrastruktur. Die Sanktionen werden nicht von US-Marshals an der Haustür durchgesetzt, sondern von Algorithmen und Compliance-Abteilungen in den Konzernzentralen. US-Firmen und ihre Tochtergesellschaften setzen die Sanktionen weltweit um, aus Angst, selbst vom US-Finanzmarkt abgeschnitten zu werden.
Tech-Konzerne und Banken befinden sich in einem unlösbaren Dilemma, entscheiden sich im Zweifel aber immer für die Macht des Stärkeren. Ein europäischer Richter wird so zum Kollateralschaden der US-Außenpolitik, exekutiert von privaten Unternehmen, die tief in die europäische Wirtschaft verwoben sind. Dies entlarvt die bittere Wahrheit hinter den Sonntagsreden von Merz und Macron: Europa importiert 80 Prozent seiner digitalen Technologien und Anwendungen. Wenn neun von zehn deutschen Unternehmen angeben, sie seien abhängig von ausländischer Technologie, dann ist das keine statistische Randnotiz, sondern ein existenzielles Risiko. Fielen Dienstleistungen aus den USA oder China weg, könnten viele Firmen kaum ein Jahr überleben.
Die „kognitive Souveränität“, von der Macron träumt, scheitert schon an der profanen Unmöglichkeit, ohne amerikanische Hilfe ein Hotelzimmer zu buchen oder ein Bahnticket zu bezahlen. Die digitale Leine ist kurz, und sie wird in Washington gehalten.
Ein Papiertiger namens Europa
Die Reaktion der europäischen Politik auf diesen direkten Angriff gegen die Unabhängigkeit der Justiz und die eigenen Staatsbürger wirkt seltsam hilflos. Zwar gibt es scharfe Kritik aus Frankreich und vom IStGH selbst, der von einem „eklatanten Angriff“ auf die Rechtsstaatlichkeit spricht. Doch die Instrumente der Gegenwehr sind stumpf.
Experten und der betroffene Richter selbst fordern die Aktivierung der sogenannten „Blocking-Verordnung“ (Verordnung 2271/96) der EU. Dieses Gesetz soll theoretisch verhindern, dass europäische Unternehmen extraterritoriale Sanktionen von Drittstaaten umsetzen müssen. Doch in der Praxis gleicht dies einem Kampf von David gegen Goliath, wobei Goliath hier nicht nur die US-Regierung ist, sondern auch das gesamte globale Finanzsystem. Unternehmen haben oft vertragliche Verpflichtungen gegenüber US-Banken oder Cloud-Anbietern, die sie nicht einfach ignorieren können. Die Drohung, vom US-Dollar-Markt ausgeschlossen zu werden, wiegt schwerer als jedes Bußgeld aus Brüssel.
Auch die Ankündigung einer gemeinsamen Taskforce für digitale Souveränität, die ihre Ergebnisse erst 2026 vorstellen soll, wirkt angesichts der akuten Bedrohung wie ein bürokratisches Trostpflaster. Während die USA Fakten schaffen und Vermögen einfrieren, gründet Europa Arbeitskreise. Kanzler Merz fordert zwar, E-Regulierungen auch auf große US-Cloud-Anbieter anzuwenden, doch solange es keine gleichwertigen europäischen Alternativen gibt, bleibt jede Regulierung ein Balanceakt am Rande der Selbstisolierung.
Der Präzedenzfall und die Zukunft
Die Sanktionierung der IStGH-Mitarbeiter markiert eine gefährliche Eskalationsstufe. Es ist nicht das erste Mal, dass die USA gegen das Gericht vorgehen – schon Donald Trump hatte in seiner ersten Amtszeit Sanktionen erlassen, die Joe Biden später zurücknahm. Doch die jetzige Härte und die direkte Zielrichtung gegen Bürger enger Verbündeter wie Frankreich und Kanada haben eine neue Qualität. Es wird ein Präzedenzfall geschaffen: Wer internationales Recht gegen die Interessen der USA oder ihrer engsten Verbündeten wie Israel durchsetzen will, muss mit der Vernichtung seiner bürgerlichen Existenz rechnen.
Kritiker sehen darin nicht nur einen Angriff auf eine Institution, sondern den Versuch, die Idee einer regelbasierten internationalen Ordnung durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen. Wenn Richter Angst haben müssen, ihre Kreditkarte zu verlieren, weil sie einen Haftbefehl prüfen, ist die Unabhängigkeit der Justiz am Ende.
Für Deutschland und Frankreich bleibt die Erkenntnis, dass der Weg zur echten Souveränität steinig und lang ist. Die Investitionen der Schwarz-Gruppe oder die Kooperationen von SAP sind wichtige Schritte, um zumindest Inseln der Unabhängigkeit zu schaffen. Doch solange das Meer drumherum von US-Technologie dominiert wird, bleibt Europa verwundbar. Der „Digitalgipfel“ und seine Versprechen wirken vor dem Hintergrund des Schicksals von Nicolas Guillou fast wie eine Realitätsflucht. Denn wahre Souveränität zeigt sich nicht in Absichtserklärungen, sondern in der Fähigkeit, „Nein“ zu sagen, ohne dass im selben Moment das Licht ausgeht. Im Moment hat Europa die Hand noch nicht am Schalter.


