Der Zweifrontenkrieg der Ukraine: Zwischen Russlands Winterterror und dem inneren Zerfall

Illustration: KI-generiert

Im November 2025 ist die Dunkelheit zurück in der Ukraine. Während die Temperaturen sinken, intensiviert Russland seine Angriffe auf die Lebensadern des Landes. Doch dieser Krieg wird nicht mehr nur an der Front im Donbass oder durch Raketeneinschläge in Kraftwerken entschieden. Ein zweiter, vielleicht gefährlicherer Krieg frisst sich durch das Herz der ukrainischen Gesellschaft: ein Kampf gegen die eigene Korruption und einen eskalierenden politischen Machtkampf, der die nationale Einheit zu zerreißen droht. Die Ukraine kämpft an zu vielen Fronten gleichzeitig. Während die Armee im Osten um jeden Meter Boden ringt und Zivilisten im Dunkeln frieren, erschüttert ein Korruptionsskandal von beispiellosem Ausmaß das Vertrauen in die Staatsführung. Kiew steht vor einem Dilemma, das existenzieller nicht sein könnte: Wie gewinnt man einen Krieg gegen einen äußeren Feind, wenn der innere Feind – die Gier und der Machtmissbrauch – am Fundament des Staates nagt?

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Russlands neue Strategie der Dunkelheit

Der anstehende Winter 2025 bringt eine neue Qualität der Zerstörung. Russlands Angriffsstrategie auf die Energieinfrastruktur hat sich verändert. Sie ist präziser geworden, chirurgischer. Statt breit gestreuter Angriffe auf zentrale Knotenpunkte konzentriert sich das russische Militär nun auf regionale Verteilnetze und Umspannwerke. Die Folge ist ein Dominoeffekt, der effektiver ist als frühere Wellen: Ganze Regionen werden systematisch vom Netz genommen, was Reparaturen erschwert und zu landesweiten, rollierenden Blackouts führt.

Für Millionen von Menschen bedeutet dies ein Leben bei Kerzenschein, in kalten Wohnungen, ohne Wasser. Die Heizkraftwerke, ohnehin am Rande ihrer Kapazitäten, fallen aus. Die Angriffe zielen nicht nur auf die Infrastruktur, sie zielen auf die Moral. Sie sollen das Land mürbe machen, den Widerstandswillen brechen, bevor der tiefste Winter einsetzt. Währenddessen bemüht sich Präsident Wolodymyr Selenskyj verzweifelt um zusätzliche Luftverteidigung. Seine Forderung nach 25 weiteren Patriot-Systemen aus den USA und von europäischen Partnern verdeutlicht die Dramatik der Lage. Doch die Hürden sind immens – nicht nur finanziell und produktionstechnisch, sondern zunehmend auch politisch.

Energoatom: Der Skandal im Herzen der Krise

Genau in diesem Moment, in dem jede Ressource für die Verteidigung der Energieanlagen gebraucht wird, explodiert in Kiew eine politische Bombe: Ein massiver Korruptionsskandal beim staatlichen Atomkonzern Energoatom. Es geht um mutmaßliche Schmiergelder in Höhe von rund 100 Millionen US-Dollar. Die Ironie könnte bitterer nicht sein: Das Geld soll ausgerechnet beim Bau von Schutzvorrichtungen für eben jene Energieanlagen veruntreut worden sein, die nun unter russischem Beschuss stehen. Der Mechanismus, der von den Anti-Korruptions-Behörden NABU und SAP aufgedeckt wird, offenbart ein System tief verwurzelter Gier. Offenbar wurden Auftragnehmer gezwungen, Bestechungsgelder zu zahlen, um an Verträge für Schutzbauten zu kommen. Ein System, das nur funktionieren konnte, weil systemische Schwachstellen bei Energoatom – mangelnde Transparenz, komplexe Genehmigungsverfahren und eine Kultur der Straflosigkeit – es zuließen.

Der Skandal zieht Kreise bis in die höchsten Ebenen. Der derzeitige Justizminister, Herman Haluschtschenko, rückt ins Visier der Ermittler – er war vor seiner jetzigen Rolle Energieminister und damit politisch für den Sektor verantwortlich. Während er Kooperation zusichert, stellt sich die Frage, wie tief seine Verstrickungen oder zumindest sein Wissen um die Vorgänge reichen.

Die Affäre erhält zusätzliche Brisanz durch eine Personalie, die direkt ins Machtzentrum von Präsident Selenskyj führt: Einer der Hauptverdächtigen, ein persönlicher Vertrauter Selenskyjs aus dessen früherer Karriere, konnte das Land offenbar kurz vor den Razzien unbehelligt verlassen. Ein Zufall? In einem Land, das um sein Überleben kämpft, wirkt ein solches Timing wie ein fatales Eingeständnis von Schwäche – oder schlimmer, von Komplizenschaft. Selenskyjs laute Forderung nach harter Bestrafung der Schuldigen klingt angesichts dieser Flucht hohl.

Kiews politisches Pulverfass: Der Kampf um die Demokratie

Dieser Korruptionsskandal trifft auf ein ohnehin vergiftetes innenpolitisches Klima. Der Krieg hat die alten Gräben zwischen der Regierung Selenskyj und der Opposition um Ex-Präsident Petro Poroschenko nicht zugeschüttet, sondern nur notdürftig überdeckt. Nun brechen sie wieder auf. Poroschenko nutzt die Gunst der Stunde für eine Generalabrechnung. Er wirft Selenskyj „schleichenden Autoritarismus“ vor und beschuldigt die Regierung, den Krieg als Deckmantel zu nutzen, um die Justiz zu instrumentalisieren und Kritiker mundtot zu machen. Es ist ein gefährliches Narrativ, das Poroschenko spinnt – aber verfolgt er nur eigene Machtinteressen, oder trifft er einen wunden Punkt?

Der Fall des Wolodymyr Kudrytskyi, des ehemaligen Chefs eines großen Energieversorgers, scheint Poroschenkos Vorwürfe zu stützen. Kudrytskyi hatte Selenskyjs Umgang mit dem Energiesektor öffentlich kritisiert; kurz darauf wurde er angeklagt. Für die Opposition ein klarer Fall politisch motivierter Justiz. Wie glaubwürdig diese Vorwürfe sind, ist schwer zu messen, doch sie säen Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit – ein Zweifel, der im Ausland genau registriert wird.

Das Misstrauen gegenüber der Regierung wird durch deren eigene Handlungen befeuert. Erst im Juli versuchte die Regierung, die Unabhängigkeit der entscheidenden Anti-Korruptions-Behörden NABU und SAP per Gesetz einzuschränken. Nur massiver interner Protest und deutlicher Druck aus der EU zwangen Selenskyj zur Rücknahme des Gesetzes. Der Vorfall wirft eine drängende Frage auf: Wollte die Regierung die Ermittlungen, die nun zum Energoatom-Skandal führten, gezielt behindern?

Die EU-Kommission reagiert auf diese Entwicklungen mit diplomatischer Vorsicht. Während sie der Ukraine im jüngsten Fortschrittsbericht auf dem Weg zum EU-Beitritt durchaus positive Schritte attestiert, werden die schweren Vorwürfe des Autoritarismus und der politisierten Justiz, die Poroschenko erhebt, mit keinem Wort erwähnt. Es ist ein beredtes Schweigen – ein Balanceakt, um Kiew nicht öffentlich zu brüskieren, während man hinter den Kulissen den Druck erhöht.

Die blutige Realität: Rückzug und Grabenkrankheiten

Szenenwechsel. Weg von den polierten Korridoren der Macht in Kiew, hin zur schlammigen, blutigen Realität der Front. Hier, im Donbass und im Süden, zahlt die Ukraine den höchsten Preis. Während Kiew politisch streitet, bröckelt die Verteidigung. Die ukrainische Militärführung muss Rückzüge im strategisch wichtigen Gebiet um Pokrowsk und Myrnohrad im Donbass sowie bei Saporischschja einräumen. Die offiziellen Lageberichte klingen oft zweckoptimistisch und stehen in scharfem Kontrast zu russischen Behauptungen einer Einkesselung und den düsteren Einschätzungen unabhängiger Beobachter, die eine baldige Eroberung der Städte befürchten. Ein russischer Durchbruch hier hätte fatale strategische Folgen für die Verteidigung des gesamten Donbass.

Doch die Krise an der Front ist nicht nur strategisch, sie ist zutiefst menschlich – und sie erinnert an die dunkelsten Kapitel der Kriegsgeschichte. Berichte von den Gräben zeichnen ein Bild, das an den Ersten Weltkrieg gemahnt. Aufgrund der permanenten Bedrohung durch russische Drohnen ist die Evakuierung von Verwundeten aus den vordersten Linien oft schlicht unmöglich geworden. Soldaten verbluten in notdürftigen Unterständen. In dieser Brutstätte aus Schmutz, Kälte und Verzweiflung breiten sich Infektionskrankheiten aus, die man in Europa für besiegt hielt. Ärzte berichten von Fällen von Gasbrand und schwerem Schützengrabenfuß. Diese mittelalterlich anmutenden Leiden sind ein direktes Resultat der Unmöglichkeit, Verwundete rechtzeitig medizinisch zu versorgen. Das Risiko für die Moral und die physische Kampfkraft der Truppen ist unkalkulierbar.

Als Reaktion auf die militärische Notlage und Russlands Energie-Terror greift die Ukraine selbst zu Drohnenangriffen auf Ziele tief in Russland, insbesondere auf Ölraffinerien wie in Saratow. Es sind Nadelstiche, die Russlands Kriegslogistik stören sollen. Doch der strategische Nutzen dieser Angriffe muss sorgfältig gegen das Risiko einer weiteren Eskalation abgewogen werden, die sich die Ukraine kaum leisten kann.

Das Vertrauen des Westens steht auf dem Spiel

Und der Westen? Er schaut zu. Er liefert, aber er zweifelt. Die Berichte über Korruption auf höchster Ebene und die Vorwürfe demokratischer Rückschritte sind Gift für die internationale Unterstützung. Petro Poroschenko mag aus Eigeninteresse handeln, aber sein Argument, dass diese Skandale der russischen Propaganda in die Hände spielen und westliche Unterstützer demoralisieren, ist nicht von der Hand zu weisen.

Die politische Landschaft in den USA, dem wichtigsten Verbündeten, ist unberechenbar geworden. Die Regierung unter Präsident Trump prüft derzeit eine Ausnahmeregelung bei den Russland-Sanktionen für das von Viktor Orban geführte Ungarn. Auch wenn dies als Sonderfall für einen Binnenstaat begründet wird, ist das Signal an Kiew und Moskau verheerend: Die Einheitsfront des Westens bekommt Risse.

Selenskyjs Dilemma

Präsident Selenskyj steht vor dem ultimativen Zielkonflikt. Er muss den Krieg gegen Russland gewinnen, die Energieversorgung im Winter sichern und gleichzeitig einen Sumpf aus Korruption trockenlegen, der bis in sein eigenes Umfeld reicht. Er muss Härte gegen die Korruption zeigen, um das Vertrauen der Partner und die EU-Beitrittsperspektive nicht zu verlieren. Doch eine rigorose Säuberung könnte jene Eliten und Seilschaften bedrohen, die seine eigene Macht stützen. Dieser Spagat, diesen Zweifrontenkrieg gegen einen äußeren Feind und den inneren Zerfall zu führen, droht ihn zu zerreißen.

Der Energoatom-Skandal ist mehr als nur ein weiterer Fall von Bestechung. Er ist ein Symptom für eine tiefere Krankheit. Ob die Ukraine die Kraft hat, sich dieser Krankheit inmitten eines brutalen Überlebenskampfes zu stellen, ist die vielleicht entscheidende Frage dieses Krieges. Die kommenden Monate werden zeigen, ob der Skandal zu einer echten Säuberung führt – oder ob er der Anfang vom Ende der innenpolitischen Stabilität ist.

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