Stillstand, Spaltung und die Professionalisierung des Zorns: Amerikas Ringen mit sich selbst

Illustration: KI-generiert

Die Vereinigten Staaten haben in der ersten Novemberwoche des Jahres 2025 einen düsteren Meilenstein erreicht. Während das Land in den längsten Regierungsstillstand seiner Geschichte rutschte, offenbarte sich eine Nation, die an allen Fronten mit sich selbst im Krieg liegt. Es ist ein Konflikt, der in den lahmgelegten Korridoren Washingtons, in den Redaktionen traditionsreicher Nachrichtensender und an den Frontlinien eines erbitterten Kulturkampfes ausgetragen wird.

Diese Woche war geprägt von einer kalkulierten Eskalation, die Bürger als Geiseln nahm, während sich das politische Establishment neu sortierte. Während die Demokraten einen historischen Wahlsieg errangen, legte dieser nur die tiefen ideologischen Gräben in der eigenen Partei offen. Gleichzeitig professionalisiert sich die MAGA-Bewegung, baut eine neue Infrastruktur aus Geld, Medien und Intellekt auf und rüstet sich für die Ära nach Donald Trump. Und über allem schwebt ein Präsident, der die Grenzen der Verfassung und die Integrität der Medien in einem beispiellosen Stresstest auslotet.

Der Tod von zwei Giganten des 20. Jahrhunderts, Dick Cheney und James D. Watson, diente dabei als unbequeme Erinnerung daran, wie schnell ein Erbe von unethischem Handeln und ideologischer Verblendung überschattet werden kann – eine Lektion, die in der Gegenwart fast ungehört verhallt.

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Der Rekord-Shutdown: Wenn der Staat zur Waffe wird

Tag 36. Der „Government Shutdown“, der am 1. Oktober begann, ist nun offiziell der längste in der Geschichte der USA. Doch dieser Stillstand ist kein bloßer Verwaltungsunfall; er ist eine politisch-ideologische Waffe, die mit chirurgischer Präzision eingesetzt wird. Vordergründig dreht sich der Konflikt um die Weigerung der Demokraten, einer Finanzierung der Regierung zuzustimmen, bis die Republikaner die Verlängerung auslaufender Bundeszuschüsse für die Krankenversicherung (Affordable Care Act, ACA) garantieren.

Diese Subventionen, die während der Pandemie eingeführt wurden, um die sogenannte „Subventionsklippe“ zu beseitigen, laufen nun aus. Die Folge ist ein finanzieller „Sticker Shock“ für Millionen Amerikaner. Insbesondere die Mittelschicht – Selbstständige, Kleinunternehmer und Frührentner, die zu jung für Medicare sind – sieht sich mit einer Verdopplung oder Verdreifachung ihrer Prämien konfrontiert.

Während die Demokraten ihre Blockade als notwendigen Schutz dieser Wählergruppe verteidigen, nutzen die Republikaner und die Trump-Administration den Schmerz der Bürger als aktives Druckmittel. Dies geschieht an drei Fronten: Zuerst bei den Lebensmittelhilfen (SNAP), von denen 42 Millionen Amerikaner abhängig sind. Präsident Trump drohte persönlich damit, die Leistungen einzustellen. Die Administration weigerte sich wochenlang, bereits vorhandene Mittel freizugeben, was zu einer juristischen Eskalation führte. Ein Bezirksrichter, John McConnell, wies die Regierung scharf an, einen Notfallfonds (den „Sektion 32“-Fonds) zu nutzen, um die vollen Leistungen auszuzahlen, und nannte die Weigerung der Regierung „beweisfremd und unplausibel“. Doch dieser Sieg war von kurzer Dauer, da Richterin Ketanji Brown Jackson am Obersten Gerichtshof eine temporäre Aussetzung des Urteils erließ, was das Chaos für die Bundesstaaten verlängerte.

Parallel dazu eskalierte die Krise im Luftverkehr. Das Transportministerium drohte mit einem „Massenchaos“ und kündigte eine gezielte Drosselung des Flugverkehrs an 40 der wichtigsten Flughäfen um zehn Prozent an. Der Grund: Die Fluglotsen, die seit über einem Monat ohne Bezahlung arbeiten, leiden unter immenser psychischer und physischer Belastung. Kritiker sehen darin ein politisches Manöver, um den Druck zu erhöhen, während die Luftsicherheitsbehörde NTSB die Maßnahme als notwendig zum Risikomanagement stützt. Die Leidtragenden sind Passagiere, deren Reiseversicherungen aufgrund der „Known Event“-Klausel (der Shutdown war bei Buchung bekannt) wahrscheinlich nicht zahlen werden.

Zuletzt säte die Administration gezielt Zweifel unter den Hunderttausenden beurlaubten Bundesangestellten, ob ihre Gehälter überhaupt nachgezahlt würden – obwohl ein Gesetz von 2019 dies garantiert. Der Stillstand ist ein politisches Ringen, das auf dem Rücken von Bürgern ausgetragen wird, die nun zwischen explodierenden Gesundheitskosten, dem Verlust von Heizkostenbeihilfen in Maine oder gestrichenen Schulmahlzeiten in der Navajo Nation aufgerieben werden.

Demokraten im Siegestaumel: Ein Triumph, zwei Parteien

Inmitten dieses düsteren Stillstands erlebte die Demokratische Partei am 5. November eine Nacht der Wiederauferstehung. Nach den katastrophalen Niederlagen von 2024 errangen sie erdrückende Siege: Abigail Spanberger und Mikie Sherrill eroberten die Gouverneursposten in den hart umkämpften Staaten Virginia und New Jersey. In Kalifornien setzten sie eine Initiative (Prop 50) durch, die ihnen durch einen strategischen Neuzuschnitt der Wahlkreise entscheidende Sitze im Repräsentantenhaus sichern könnte. Und in New York City gelang Zohran Mamdani ein historischer Sieg bei der Bürgermeisterwahl.

Alle Kandidaten einte eine universelle Formel: Sie adressierten die Krise der Lebenshaltungskosten („Affordability“) und kanalisierten die Wut der „No Kings“-Proteste erfolgreich in einen Anti-Trump-Impuls. Doch dieser Triumph ist trügerisch, denn er offenbart keine einheitliche Strategie, sondern zwei fundamental unterschiedliche und potenziell unvereinbare Porträts des Erfolgs.

Modell 1 ist die zentristische Wiederherstellung, verkörpert durch Abigail Spanberger in Virginia. Die ehemalige CIA-Mitarbeiterin gewann als Pragmatikerin, die von ihrem Ruf als „Maverick“ profitierte – eine Frau, die sich in der Vergangenheit offen gegen Nancy Pelosi gestellt hatte. Sie schnitt ihre Kampagne chirurgisch auf die Sorgen der Bundesangestellten in Virginia zu, die von Trumps Kürzungen betroffen waren, und profitierte davon, dass Trump ihre Gegnerin nur halbherzig unterstützte. Ihr Sieg ist ein Argument für den Weg der Mitte.

Modell 2 ist die progressive Revolution in New York, angeführt von Zohran Mamdani. Der 34-jährige demokratische Sozialist, der zu Jahresbeginn bei 1 Prozent lag, hat die Regeln der New Yorker Politik neu geschrieben. Er gewann durch die Mobilisierung einer historisch hohen Wahlbeteiligung bei Wählern unter 45 Jahren. Sein Genie lag in der Konstruktion einer neuen Koalition: Er vereinte junge, gebildete Wähler in gentrifizierten Vierteln mit der muslimischen Arbeiterklasse und südasiatischen Einwanderern in Queens und der Bronx. Als erster muslimischer Bürgermeister der Stadt machte er seine Identität zum zentralen Mobilisierungsfaktor.

Mamdani widerstand einer Flut von über 40 Millionen Dollar an Angriffs-Werbung von Milliardären wie Bill Ackman, indem er die Angriffe als Beweis seiner Unabhängigkeit nutzte. Gleichzeitig gelang ihm nach der Vorwahl eine „delikate Entwaffnung“ der Eliten, indem er sich mit Wirtschaftsführern traf und sich sogar bei Gouverneurin Hochul entschuldigte, um eine Arbeitsbeziehung zu signalisieren. Er bewies, dass ein Populist nicht nur mobilisieren, sondern auch taktisch agieren kann.

Diese beiden Siege stellen die Demokraten vor eine Zerreißprobe. Während die Parteiführung die Rhetorik des „Big Tent“ beschwört, ist der ideologische Kampf um die Zukunft der Partei – Pragmatismus gegen Revolution – bereits im Gange.

Die Professionalisierung von MAGA: Wie JD Vance eine neue Elite schmiedet

Während die Demokraten mit ihrer Identität ringen, vollzieht sich auf der rechten Seite des Spektrums ein ebenso tiefgreifender Wandel: die Professionalisierung und Institutionalisierung der MAGA-Bewegung. Weit abseits der lauten Bühnen von Donald Trump wird an einer Infrastruktur gebaut, die die Bewegung über ihren Schöpfer hinaus langlebig machen soll.

Im Zentrum dieses Wandels steht Vizepräsident JD Vance, der als Architekt einer neuen Elite operiert. An seiner Seite steht Chris Buskirk, der eine neue Ideologie formuliert hat: den „Aristopopulismus“. Die These lautet, dass jede Gesellschaft eine Elite habe; das Ziel sei, die „extraktive“ Oligarchie durch eine „produktive Aristokratie“ zu ersetzen, die im „klassisch griechischen Sinne“ das Land zum Wohle aller führe.

Diese Philosophie ist der ideologische Zement für das „Rockbridge Network“, das 2019 von Vance, Buskirk und Peter Thiel gegründet wurde. Es ist ein Anti-Establishment-Establishment, das auf einer „Brains-plus-money-plus-base“-Formel basiert. Statt auf teure TV-Spots setzt Rockbridge auf den Aufbau von Wählerprofilen und die Infiltration nicht-politischer Organisationen wie Kirchen oder Jägervereine, um Vertrauen zu schaffen, bevor die politische Bitte ausgesprochen wird. Die Gästelisten der Treffen, die von Finanzminister Scott Bessent bis Geheimdienstdirektorin Tulsi Gabbard reichen, zeigen: Rockbridge ist das neue Gravitationszentrum der republikanischen Spenderwelt.

Das ökonomische Gegenstück ist „1789 Capital“, eine Risikokapitalfirma, die „patriotischen Kapitalismus“ betreibt. Sie investiert in „Anti-Woke“-Firmen, die 3D-Raketentreibstoff drucken oder KI-Fabriken für den Krieg bauen. Nachdem Donald Trump Jr. im November 2024 als Partner einstieg, sammelte die Firma Hunderte Millionen ein. Kritiker sehen ein offenes „Pay-to-Play“-System, insbesondere nachdem Bundesuntersuchungen gegen die Krypto-Plattform Polymarket – in die 1789 investiert und in deren Beirat Trump Jr. sitzt – eingestellt wurden.

Gleichzeitig wird die Medienlandschaft umgebaut. Die Ernennung von Bari Weiss zur Chefredakteurin von CBS News, nachdem David Ellison The Free Press für 150 Millionen Dollar gekauft hat, wird intern als „Free Press-ifizierung“ des Senders gesehen. Die Folgen sind ein Kulturschock und eine massive Abwanderung der alten Garde, wie John Dickerson. Schlüsselpositionen wie „Standards and Practices“ wurden gekündigt, während das „Race and Culture Unit“ und das Klimateam aufgelöst wurden. Ellison spielt ein riskantes „Stewart-Paradoxon“: Mit der einen Hand installiert er die „Anti-Woke“-Guerilla Weiss, mit der anderen finanziert er den schärfsten Trump-Kritiker Jon Stewart.

Das Problem dieser neuen Infrastruktur ist ihre Abhängigkeit vom radikalen Rand. Die Bewegung muss die Basis mobilisieren, was Tür und Tor für Extremisten öffnet. Nach dem Tod von Charlie Kirk ist Jack Posobiec zum wichtigsten Influencer der Bewegung aufgestiegen. Trotz einer Vergangenheit mit Neonazi-Referenzen hat er, wie das Weiße Haus bestätigt, als „vertrauenswürdige Stimme“ Zugang zum Oval Office und schreibt Bücher, für die JD Vance das Vorwort liefert.

Dieser Pakt mit dem Extremismus zeigt sich auch im „Bürgerkrieg“ der MAGA-Bewegung, ausgelöst durch Tucker Carlsons Interview mit dem Hitler-bewundernden Antisemiten Nick Fuentes. Dies markiert den Tod des alten „Buckley-Prinzips“ (das Extremisten ausschloss) zugunsten der neuen Doktrin: „No Enemies To The Right“. Der Vorfall löste eine Implosion bei der Heritage Foundation aus.

JD Vance, der Architekt und Erbe, steht nun im Zentrum dieses Dilemmas. Er wird mit dem „Groyper Squeeze“ konfrontiert – dem Druck der Fuentes-Anhänger. Seine Reaktion ist strategisches Schweigen. Als er mit rassistischen Chats junger Republikaner konfrontiert wurde, winkte er ab („was Kinder eben so tun“). Als er von einem Studenten mit einer antisemitischen Prämisse konfrontiert wurde, ignorierte er den antisemitischen Kern der Frage vollständig. Anders als Charlie Kirk, der Judenhass als „Gehirn-Fäule“ bezeichnete, zieht Vance keine rote Linie. Er duldet den Extremismus, um die Koalition zusammenzuhalten.

Der Stresstest für die Verfassung: Trumps Griff nach der Macht

Während seine Erben die Infrastruktur bauen, widmet sich Donald Trump der Demontage von institutionellen Grenzen. Die Woche war geprägt von mehreren Stresstests für die amerikanische Verfassung und die Medien.

Zunächst das Spiel mit der dritten Amtszeit. Obwohl Präsident Trump Ende Oktober an Bord der Air Force One erklärte, „ich darf nicht kandidieren“, befeuert er die Debatte weiter. „Trump 2028“-Kappen sind zu einem Symbol einer kalkulierten Unschärfe geworden. Es geht nicht um einen offenen Bruch, sondern um die Ausnutzung eines juristischen Nadelöhrs: der „Nachfolge-Schlupfloch“-Theorie. Der 22. Zusatzartikel verbietet, mehr als zweimal „gewählt“ zu werden. Die Theorie besagt, dass dies das Amtieren durch Nachfolge nicht verbietet. Trump könnte 2028 als Vizepräsident antreten, woraufhin der Präsident (etwa J.D. Vance) zurücktritt und Trump aufrückt. Trump selbst nannte die Idee „zu raffiniert“, behauptete aber im selben Atemzug: „Das wäre mir erlaubt“.

Gleichzeitig wurde die Macht des Präsidenten vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt. Es geht um die Rechtmäßigkeit der Zolltarife, die Trump unter Berufung auf ein Notstandsgesetz von 1977 (IEEPA) erlassen hat. Die Frage ist fundamental: Ist ein Zoll eine „Steuer“ (was dem Kongress vorbehalten ist) oder ein „regulatorischer Zoll“ (was der Präsident als Teil der Außenpolitik erlassen kann)? Die Tatsache, dass die Zölle 90 Milliarden Dollar eingebracht haben, macht die Behauptung der Regierung, die Einnahmen seien „nur beiläufig“, schwer haltbar. Der Fall bringt die konservativen Richter in eine Zwickmühle. Um Trump zu stützen, müssten sie ihre eigene „Major Questions Doctrine“ (die eine klare Ermächtigung des Kongresses für Maßnahmen von großer Tragweite verlangt) ignorieren. Die Richter Neil Gorsuch und Amy Coney Barrett zeigten sich entsprechend alarmiert über die „Anhäufung von Macht in der Exekutive“.

Ein dritter, kleinerer Fall bot einen seltenen Moment der bürgerlichen Notwehr. In Washington D.C. wurde Sean Dunn, der „Sandwich Guy“, freigesprochen. Dunn hatte aus Protest ein Sandwich auf einen Bundesagenten geworfen. Die Staatsanwaltschaft unter Jeanine Pirro hatte daraufhin eine Anklage wegen eines Schwerverbrechens (Felony) verfolgt – ein Fall, der als „Felony Footlong“ bekannt wurde. Die Geschworenen sahen die absurde Diskrepanz zwischen der drakonischen Anklage und der harmlosen Tat und wiesen die als politisch motiviert empfundene Überreaktion der Justiz zurück.

Die vielleicht perfideste Machtdemonstration der Woche richtete sich jedoch gegen die Presse. In Trumps „60 Minutes“-Interview lag der eigentliche Skandal in dem, was CBS nicht sendete. Der Sender schnitt 46 Minuten des Gesprächs heraus, darunter die Passage, in der Trump mit dem 16-Millionen-Dollar-Vergleich prahlte, den er gegen die CBS-Muttergesellschaft Paramount durchgesetzt hatte. Dieser Vergleich erfolgte just zu dem Zeitpunkt, als Paramount die Genehmigung der Trump-Administration für eine entscheidende Fusion mit Skydance benötigte. Indem CBS diesen massiven Interessenkonflikt verschwieg, entlarvte der Sender vor allem die eigene journalistische Kapitulation.

Der globale Zermürbungskrieg: Die Ukraine und Russlands „Black Box“

Während die USA mit sich selbst beschäftigt sind, verhärten sich die Fronten im globalen Zermürbungskrieg. Der Kampf um die Ukraine wird längst nicht mehr nur in den Schützengräben entschieden.

An der Front, etwa in der Schlacht um Pokrowsk, zeigt sich ein Dilemma. Russland nutzt kleine Infanteriegruppen, um in die Stadt einzusickern und die größte Schwachstelle der Ukraine auszunutzen: den Mangel an Soldaten. Die ukrainische Führung unter Oleksandr Syrsky steht in der Kritik, ähnlich wie in Bachmut, zu lange an der Stadt festzuhalten und untragbare Verluste in Kauf zu nehmen, anstatt einen rechtzeitigen Rückzug anzuordnen.

Technologisch hat der Krieg das Schlachtfeld verändert. Die Allgegenwart von Drohnen hat die „Golden Hour“ zur Rettung Verwundeter faktisch eliminiert. Schlimmer noch: Russische Teams machen gezielt Jagd auf Sanitäter und nutzen Verwundete als Köder. Als Antwort entwickelt die Ukraine unbemannte Bodenfahrzeuge (UGVs), um Verwundete aus der Todeszone zu bergen.

Russland selbst hat seine Kriegsstrategie verfeinert. Gezielte Angriffe auf Gaskraftwerke und „Doppelschläge“ – bei denen Reparaturteams nach einem ersten Angriff gezielt attackiert werden – sollen die zivile Resilienz brechen. Die Ukraine leidet derweil unter einer akuten Mobilisierungskrise; die anfängliche Begeisterung ist einer weit verbreiteten „Draft Avoidance“ gewichen.

Gleichzeitig erweist sich Russlands Wirtschaft als erschreckend resilient. Wie der Ökonom Dmitri Nekrasow analysiert, sind die westlichen Konsum- und Industriegütersanktionen weitgehend wirkungslos. Nur die Finanzsanktionen (SWIFT-Ausschluss, Verlust der Reserven) zeigen Wirkung. Doch mit einer extrem niedrigen Staatsverschuldung kann Putin den Krieg noch Jahre finanzieren.

Im Inneren verwandelt der Kreml Russland in eine totale „Black Box“. Die neue, FSB-diktierte „Super-App“ namens „Max“ nach chinesischem Vorbild soll die totale digitale Überwachung ermöglichen und westliche Apps wie WhatsApp verdrängen. Parallel dazu verschwinden fundamentale Daten: Die Statistikbehörde Rosstat veröffentlicht keine Zahlen mehr zu Demografie, Migration oder Kriminalität. Und eine „opake“ Zensur, insbesondere von LGBTQ-Themen, zwingt Verlage zur Selbstzensur. Selbst moderate Kritiker der Jabloko-Partei werden nun präventiv verhaftet, um jedes „Nadjeschdin-Phänomen“ vor den Wahlen 2026 zu ersticken.

Das Erbe der Giganten: Der Tod von Dick Cheney und James D. Watson

In dieser turbulenten Woche ist die Welt des 20. Jahrhunderts wieder ein Stück weiter verschwunden. Zwei Männer, die diese Ära auf fundamental unterschiedliche Weise prägten, wurden zu Grabe getragen, und ihre Vermächtnisse zwingen zu einer unbequemen Auseinandersetzung mit Genie und moralischem Versagen.

Am 3. November starb Dick Cheney im Alter von 84 Jahren. Der als „Darth Vader“ der Bush-Jahre bekannte Vizepräsident war der Architekt des Irakkriegs und der Rechtfertiger der Folter. Doch sein politisches Leben folgte, wie die Analyse zeigt, einer starren Linie: dem Glauben an eine unantastbare, imperiale Macht der Exekutive. Geprägt vom „Nadir“ der Präsidentschaft nach Watergate, sah er den 11. September 2001 als ultimative Rechtfertigung, die „dunkle Seite“ zu umarmen und eine „Co-Präsidentschaft“ zu führen. Die tragische Ironie seines Lebens ist, dass er seine letzten Jahre als einer der schärfsten Kritiker Donald Trumps verbrachte. Cheney verfluchte in Trump die „größte Bedrohung für unsere Republik“, ohne zu erkennen, dass Trump der populistische Erbe ebenjener exekutiven Allmacht war, die Cheney selbst geschaffen und juristisch salonfähig gemacht hatte.

Während Cheneys Erbe politisch ist, ist das von James D. Watson wissenschaftlich und ethisch. Watson, der im Alter von nur 25 Jahren die Struktur der DNA mitentschlüsselte, war ein Gigant der Wissenschaft. Doch dieser Triumph trug von Anfang an einen Makel. Der entscheidende Durchbruch basierte auf „Photo 51“, einer Röntgenaufnahme von Rosalind Franklin, die Watsons Kollege ihm ohne Franklins Wissen oder Erlaubnis zeigte. Franklin starb, bevor Watson 1962 den Nobelpreis erhielt, und wurde in Watsons Bestseller „Die Doppelhelix“ herablassend als „Rosy“ beschrieben. Watsons wissenschaftliches Genie war untrennbar mit einer Arroganz verbunden, die in späten Jahren in offenen Rassismus und Sexismus umschlug. 2007 erklärte er, er sei pessimistisch für Afrika, da „alle Tests sagen“, ihre Intelligenz sei nicht gleichauf mit „unserer“. Dieser unentschuldbare Ausfall führte zu seiner Verbannung aus dem Cold Spring Harbor Laboratory, das er selbst zu Weltruhm geführt hatte. Die bitterste Ironie: Die Genomforschung, die Watson begründete, liefert heute die stärksten Argumente gegen seine rassistischen Thesen.

Zukünftige Schocks: Eine Wunderpille und der digitale Tunnelblick

Während die Politik über Institutionen und Kriege streitet, vollziehen sich unter der Oberfläche zwei Revolutionen, die die Gesellschaft fundamental verändern könnten.

Die erste ist medizinisch und ökonomisch: der Aufstieg der GLP-1-Medikamente wie Wegovy und Zepbound. Sie markieren einen Paradigmenwechsel, der Adipositas nicht als Charakterschwäche, sondern als Wurzel chronischer Leiden behandelt. Doch dieses Wunder hat einen Preis, der das US-Gesundheitssystem in eine Krise stürzt. Versicherer und Arbeitgeber, die in Quartalsberichten statt in Jahrzehnten denken, scheuen die unmittelbaren Kosten, obwohl die Medikamente langfristig Milliarden sparen könnten. Der von Trump verkündete Preis-Deal mit Eli Lilly und Novo Nordisk entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Triumph der Optik: Die Konzerne erhalten im Gegenzug für begrenzte Rabatte „Priority Vouchers“ der FDA, die eine beschleunigte Zulassung für ihre nächste, noch profitablere Generation von Pillen ermöglichen. Die vielleicht größte Tragödie dieser Revolution ist jedoch, dass das enorme Potenzial dieser Medikamente zur Behandlung von Suchterkrankungen (Kokain, Opioide, Alkohol) systematisch ignoriert wird, weil die Zielgruppe als nicht profitabel gilt.

Die zweite Revolution ist kognitiv. Der stille Tausch von Papier gegen Pixel verändert die Art, wie wir denken. Neue Forschungen zeigen einen fundamentalen Unterschied: Das Lesen auf Papier fördert das „tiefe Lesen“ (Deep Reading), das zu Abstraktion und dem Verständnis des „großen Ganzen“ führt. Das Lesen am Bildschirm hingegen trainiert das „Skimming“. Es führt zu einem „digitalen Tunnelblick“, bei dem wir uns zwar hervorragend an Details erinnern, aber Schwierigkeiten haben, diese zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzufügen. Augenbewegungsstudien zeigen, dass der Blick am Bildschirm oft in einem „F-Muster“ springt. Dieser Wandel, gepaart mit dem Phänomen „Brain Rot“ durch sozialen Medienkonsum, könnte dazu führen, dass wir zwar mehr Informationen als je zuvor konsumieren, aber die Fähigkeit zur kognitiven Geduld und zum kritischen Denken verlieren.

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