Amerika im Stillstand: Die kalkulierte Eskalation des Rekord-Shutdowns

Illustration: KI-generiert

Tag 36. Es ist der 5. November 2025, und die Vereinigten Staaten haben soeben einen düsteren, beispiellosen Meilenstein erreicht. Der „Government Shutdown“ ist nun offiziell der längste in der Geschichte des Landes und übertrifft den bisherigen Rekord von 34 Tagen aus der ersten Amtszeit von Präsident Donald Trump. Doch dieser Stillstand ist mehr als nur eine statistische Anomalie; er ist ein Zermürbungskrieg, der mit chirurgischer Präzision auf dem Rücken der eigenen Bevölkerung ausgetragen wird.

Vordergründig dreht sich das politische Drama um eine einzige, fundamentale Forderung: Die Demokraten blockieren die Finanzierung der Regierung, bis die Republikaner der Verlängerung auslaufender Bundeszuschüsse für die Krankenversicherung (Affordable Care Act, ACA) zustimmen. Die Republikaner wiederum bieten eine Finanzierung an, aber nur „sauber“ – ohne, wie sie es sehen, gesundheitspolitische Zugeständnisse. Was sich jedoch hinter dieser unbeweglichen Frontlinie offenbart, ist eine tiefgreifende Dysfunktion des politischen Systems: Es ist ein Konflikt, in dem der Präsident gegen die eigene Partei kämpft, die Opposition zwischen Prinzipien und Pragmatismus zerrissen ist und die Administration den Schmerz der Bürger kalkuliert als Verhandlungsmaße einsetzt.

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Trumps verlorener Krieg gegen die Regeln

Für Präsident Trump kommt dieser Shutdown zur Unzeit. Die jüngsten Wahlen liefen für seine Republikaner alles andere als gut, und er selbst sieht den Stillstand als einen Hauptgrund für die Niederlagen. Sichtlich unter Druck, drängt er nun auf eine Lösung – allerdings nicht durch Verhandlung, sondern durch die Zertrümmerung der Spielregeln.

Seine Forderung, die er bei einem Treffen mit republikanischen Senatoren im Weißen Haus wiederholte, lautet: die Abschaffung des Filibusters im Senat. Diese Regel verlangt für die meisten Gesetze eine Supermajorität von 60 Stimmen und gibt der Minderheit damit faktisch ein Veto-Recht. Würde sie fallen, könnten die Republikaner die Regierung mit ihrer einfachen Mehrheit finanzieren und die Demokraten überstimmen.

Doch hier zeigt sich die erste tiefe Bruchlinie: Die eigene Partei folgt ihm nicht. Führende Republikaner im Senat, wie Mehrheitsführer John Thune, erteilten der Forderung eine prompte und unmißverständliche Absage. Die Stimmen seien schlicht nicht vorhanden.

Der Grund für diesen Widerstand ist nicht Loyalität zur Tradition, sondern strategische Weitsicht. Die Senatoren wissen, daß die Macht im Senat wechselt. Die Abschaffung des Filibusters wäre ein kurzfristiger Sieg für Trump, aber ein langfristiges Desaster für die Republikaner, sobald sie selbst wieder in der Minderheit sind. Sie fürchten, daß die Demokraten dann ihre eigene Agenda ungebremst durchsetzen würden.

Damit unterscheidet sich Trumps Agieren fundamental von der Krise 2018/2019. Damals stand er im Zentrum der Verhandlungen über die Finanzierung seiner Grenzmauer, traf sich öffentlich mit den Anführern der Demokraten und war, wenn auch erfolglos, in den Prozeß involviert. Heute, im Jahr 2025, wirkt der Präsident seltsam distanziert vom eigentlichen Streitthema. Er reist, hält Veranstaltungen ab und konzentriert sich nicht auf den Inhalt (die ACA-Subventionen), sondern auf die Zerstörung des Verfahrens.

Die zerrissenen Demokraten: Zwischen Triumph und Zerreißprobe

Auf der anderen Seite des Ganges spüren die Demokraten den Rückenwind der jüngsten Wahlerfolge. Sie sehen die Ergebnisse als Bestätigung ihres Kurses: Die Bevölkerung will offenbar den Schutz der Gesundheitsversorgung.

Doch dieser äußere Triumph verbirgt eine tiefe interne Zerrissenheit. Die Partei ist gespalten in ein progressives Lager, das auf einer harten Linie beharrt, und ein gemäßigtes Lager, das nach einem Ausweg aus der eskalierenden Krise sucht.

Die Progressiven, angeführt von Stimmen wie Bernie Sanders, warnen eindringlich vor einem „Einknicken“. Für sie wäre es ein „Verrat“ an den Wählern, die Regierung freizugeben, ohne eine verbindliche, schriftliche Garantie für die ACA-Subventionen zu erhalten. Ein bloßes Versprechen der Republikaner, irgendwann einmal über das Thema abstimmen zu laßen, halten sie für wertlos. Sie mißtrauen den Republikanern zutiefst und fürchten, daß Thune sie hinhalten wird, sobald die Regierung wieder läuft.

Gleichzeitig wächst der Druck der Gemäßigten. Senatoren wie Gary Peters oder Mark Warner sehen die soziale Erosion, die der Shutdown verursacht, und fürchten, daß die öffentliche Meinung kippt, je schmerzhafter die Folgen werden. Aus diesem Kreis heraus entsteht derzeit der einzig sichtbare Kompromißvorschlag: Ein Handel, bei dem der Kongreß drei bereits fertig verhandelte, überparteiliche Finanzierungspakete (z.B. für Landwirtschaft und Militärbauten) verabschiedet und den Rest der Regierung über eine kurzfristige Resolution (Continuing Resolution) finanziert. Als Gegenleistung würden die Republikaner eine Abstimmung über die ACA-Hilfen zu einem festen Datum garantieren.

Ob dieser Deal fliegen kann, ist die entscheidende Frage. Es braucht mindestens acht demokratische Überläufer, um den Filibuster der Republikaner zu brechen (da auch der Republikaner Rand Paul dagegen stimmt). Der interne Kampf der Demokraten ist somit zum zweiten Epizentrum des Stillstands geworden.

Das Kalkül mit dem Chaos: Wenn der Staat zur Waffe wird

Während die Politik im Kongreß festgefahren ist, hat die Trump-Administration eine andere Strategie gewählt: die aktive Eskalation des Schmerzes. Der Stillstand wird nicht nur in Kauf genommen, er wird als Druckmittel kultiviert, und drei Beispiele offenbaren dieses Kalkül:

1. Die Gehälter der Bundesbediensteten: Hunderttausende Bundesangestellte sind entweder beurlaubt oder müßen ohne Bezahlung arbeiten (wie Fluglotsen oder Sicherheitspersonal). Ein Gesetz aus dem Jahr 2019, das nach dem letzten Rekord-Shutdown unterzeichnet wurde, garantiert eigentlich die Nachzahlung aller Gehälter, auch für die Beurlaubten. Doch die Trump-Administration sät gezielt Zweifel. In offiziellen Mitteilungen an die Belegschaft wird plötzlich nur noch die Bezahlung der „ausgenommenen“ (weiterarbeitenden) Angestellten erwähnt – die Garantie für die Beurlaubten fehlt. Pressesprecherin Karoline Leavitt bezeichnete die Nachzahlung offen als etwas, das man „im Rahmen der Diskussionen“ mit den Demokraten verhandeln könne. Dies ist eine kalkulierte Verunsicherung, die den Druck auf die Angestellten und damit auf die Demokraten maximieren soll, obwohl die Rechtslage eindeutig ist.

2. Das drohende Flug-Chaos: Verkehrsminister Sean Duffy warnte unverblümt vor einem „Maßenchaos“ im nationalen Luftverkehr. Er drohte damit, Teile des Luftraums schließen zu müßen, weil die Sicherheit nicht mehr gewährleistet sei. Diese Warnung ist keine leere Rhetorik. Die ohnehin unterbesetzte Belegschaft der Fluglotsen arbeitet seit Wochen unbezahlt. Viele nehmen Nebenjobs an, fahren Uber oder melden sich krank, weil sie es sich nicht leisten können, zur Arbeit zu kommen. In New York fehlten an einem Tag fast 80 Prozent der Lotsen. Das System, das die Sicherheit von Millionen Passagieren gewährleistet, wird zur tickenden Zeitbombe, die die Regierung bewußt als Verhandlungsmaße nutzt.

3. Die Lebensmittelhilfen (SNAP): Am zynischsten wirkt das Vorgehen bei den Lebensmittelhilfen. Präsident Trump drohte auf Social Media persönlich damit, die SNAP-Leistungen für 42 Millionen Amerikaner, darunter 16 Millionen Kinder, komplett einzustellen, bis die Demokraten die Regierung öffnen. Obwohl das Weiße Haus später zurückruderte und (nach mehreren Gerichtsurteilen) versicherte, man werde sich an die Anordnungen halten und Teilzahlungen leisten, bleibt die Drohung im Raum. Die Administration demonstriert ihre Bereitschaft, die Ärmsten des Landes als Geiseln zu nehmen.

Die unsichtbaren Kosten der Blockade

Abseits der großen politischen Bühnen in Washington frißt sich der Shutdown tief in den Alltag von Millionen Menschen, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind. In den nördlichen Bezirken von Maine, wo die Temperaturen bereits unter den Gefrierpunkt fallen, sitzt die 93-jährige Caroline McNinch in ihrem Haus. Ihr Heizöltank ist nur noch zu einem Viertel voll. Als sie bei der lokalen Sozialbehörde anrief, die ihr sonst hilft, erhielt sie die Nachricht: Das Bundesprogramm für Heizkostenbeihilfe (LIHEAP), ein 4-Milliarden-Dollar-Topf, ist eingefroren. Lokale Hilfsorganisationen sind überrannt; eine meldete über 900 Anrufe an einem einzigen Tag. Der Leiter einer dieser Organisationen faßte die Verzweiflung zusammen: Private Spenden seien willkommen, aber „es gibt keine Futterkörbe für Heizöl“. Das System kollabiert.

Hunderte Meilen entfernt, in der Navajo Nation in Arizona, kämpft das Chinle Unified School District ums Überleben. Der Bezirk finanziert sich zu 50 Prozent aus einem Bundesprogramm namens „Impact Aid“, das den Mangel an lokalen Steuergeldern auf Bundesland ausgleicht. Dieses Geld fehlt nun. Die Konsequenz: Nachmittagsprogramme werden gestrichen, Bauprojekte gestoppt und – am schlimmsten – Mahlzeiten für Kinder gestrichen, die oft ihre einzige warme Nahrung am Tag sind.

Diese Beispiele zeigen den unlösbaren Zielkonflikt, in den die Demokraten ihre eigenen Wähler zwingen. In Georgia bangt die Kleinunternehmerin Cyndie Story um ihre Existenz, weil ihre Krankenversicherungsprämien ohne die ACA-Subventionen explodieren. Sie unterstützt das Ziel der Demokraten. Doch als Ernährungsberaterin sieht sie auch, wie die Kinder ihrer Klienten durch den Shutdown die Essenshilfen verlieren. Es sei, als müße sie wählen, „welchen Arm sie sich abschneiden“ solle. Diese Frustration über beide Seiten wächst. Wähler wie Jon Smalling, ebenfalls aus Georgia, sagen: „Man muß allen die Schuld geben. Es reicht jetzt.“

Die Anatomie des Stillstands: Wer ist wirklich verantwortlich?

Die Frage der Verantwortung ist derweil zum politischen Spielball geworden. Aktuelle Umfragen zeigen zwar, daß eine Mehrheit der Amerikaner (und eine deutliche Mehrheit der Unabhängigen) die Schuld bei Präsident Trump und den Republikanern sieht.

Doch die strukturelle Verantwortung ist komplexer. Der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, hat seine Kammer seit Wochen praktisch aus dem Spiel genommen und weigert sich, über alternative Finanzierungen abzustimmen. Im Senat herrscht blanke Frustration. „Shutdowns sind dumm. Niemand gewinnt“, klagte der Republikaner John Thune.

Die prognostizierten wirtschaftlichen Kosten dieser „dummen“ Blockade sind enorm. Das überparteiliche Congressional Budget Office schätzt den Verlust auf mindestens 7 Milliarden Dollar, sollte der Shutdown andauern. Eine Summe, die in einem seltsamen Verhältnis zu den Kosten der umstrittenen ACA-Subventionen steht, um die vordergründig gerungen wird.

Der Preis des Vertrauens

Wie endet dieser historische Stillstand? Es scheint, als ob nur eine weitere Eskalation – ein Kälteeinbruch in Neuengland, der Menschenleben fordert, oder ein sicherheitsrelevanter Kollaps im Flugverkehr – den Druck auf die gemäßigten Senatoren beider Lager so erhöhen kann, daß sie einen Kompromiß erzwingen. Doch der wahre, langfristige Schaden dieses Shutdowns wird nicht in Dollar gemessen. Er mißt sich in Vertrauen.

Die Demokraten weigern sich, einem Kompromiß zuzustimmen, der nur auf dem Wort der Republikaner basiert, weil dieses Vertrauen systematisch zerstört wurde. Sie verweisen auf die Vergangenheit, in der die Trump-Administration wiederholt Gesetze zur Mittelbindung ignoriert (ein Manöver namens „Impoundment“) und überparteiliche Vereinbarungen gebrochen hat.

Der Rekord von 36 Tagen ist daher mehr als nur eine Zahl. Er ist die Fieberkurve eines politischen Systems, das nicht mehr in der Lage ist, fundamentale Meinungsverschiedenheiten auszutragen, ohne die eigene Funktionsfähigkeit zu opfern. Es ist das Porträt einer Regierung, die gelernt hat, den Stillstand selbst als ihre letzte und schärfste Waffe einzusetzen.

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