
Wir opfern die Biodiversität für ein einziges Nutztier – und demontieren die Wissenschaft, die den Kollaps dokumentieren könnte.
Das Narrativ vom „Bienensterben“ ist allgegenwärtig, ein fest verankerter Topos ökologischer Betroffenheit. Es beschwört Bilder von kollabierenden Völkern, vergifteten Landschaften und einer drohenden Apokalypse der Bestäubung. Diese Sorge ist so verbreitet wie berechtigt, doch sie leidet unter einer fundamentalen, ja gefährlichen Unschärfe. Denn während die öffentliche Debatte und gut gemeinte Schutzinitiativen sich auf eine einzige Spezies fixieren – die westliche Honigbiene, Apis mellifera –, vollzieht sich abseits des medialen Fokus eine weitaus dramatischere Krise. Wir erleben in den Vereinigten Staaten ein verstörendes Paradoxon: Noch nie sind die gemeldeten Verluste bei kommerziellen Honigbienenvölkern höher gewesen, und gleichzeitig hat die Gesamtzahl der Honigbienenvölker in den USA ein historisches Allzeithoch erreicht.
Dieser Widerspruch ist kein Zeichen der Entwarnung. Er ist das Symptom einer tiefgreifenden Pathologie. Er offenbart ein System, das ökologische Resilienz durch industrielle Kapazität ersetzt hat. Die USA „retten“ nicht die Bienen; sie optimieren lediglich ihr landwirtschaftliches Nutztier-Management. Diese Optimierung – ein brutaler Zyklus aus massivem Verschleiß und aggressivem Ersatz – wird von ökonomischen Interessen angetrieben, die blind sind für ihre ökologischen Kollateralschäden.

US Politik Deep Dive: Der Podcast mit Alana & Ben
Schlimmer noch: Dieser industriell-kommerzielle Boom der Honigbiene maskiert nicht nur die wahre Katastrophe, er beschleunigt sie aktiv. Denn die eigentliche Tragödie ist der stille, undokumentierte Kollaps der rund 4.000 heimischen Wildbienenarten Nordamerikas. Es ist eine fatale Ironie: Wir fluten die urbane und ländliche Umwelt mit Milliarden domestizierter Honigbienen in dem Glauben, „die Bienen zu retten“, während diese invasive Konkurrenz den bedrohten Wildarten den letzten Lebensraum streitig macht. Und in einem Akt vollendeter Ignoranz demontiert die Politik just in diesem kritischen Moment jene Forschungseinrichtungen, die als einzige in der Lage wären, das Ausmaß dieses Biodiversitätsverlusts zu verstehen und zu dokumentieren.
Das Paradox der Bienen-Statistik
Um die Krise zu verstehen, muss man die Statistik dekonstruieren. Wie kann es sein, dass Imker über katastrophale Verluste klagen – teils 60 Prozent ihrer Völker in einem Jahr – und die Gesamtzahl der Kolonien laut dem US Census of Agriculture dennoch auf 3,8 Millionen steigt, den höchsten Stand seit Jahrzehnten?
Die Antwort lautet: Die Honigbiene ist in den USA kein Wildtier, sondern Produktionsvieh. Sie wird behandelt wie Geflügel oder Schweine in der Massentierhaltung. Die gemeldeten Verluste sind real, verheerend und werden durch ein Konglomerat bekannter Stressoren verursacht: die parasitäre Varroa-Milbe, die Viren überträgt, ein Cocktail aus Pestiziden, der das Immunsystem schwächt, und Habitatverlust.
Doch anders als bei einer Wildtierpopulation führt dieser Verlust nicht zum Kollaps des Gesamtbestands. Er führt zu einer Intensivierung des Managements. Kein kommerzieller Imker, der 60 Prozent seiner Völker verliert, gibt sein Geschäft auf. Er kompensiert den Verlust. Er teilt aggressiv die überlebenden Völker, importiert neue Königinnen – deren Preise sich angesichts der Knappheit verdoppelt haben – und züchtet die Population künstlich wieder auf den Stand, den der Markt verlangt. Was die Statistik zeigt, ist kein gesundes Ökosystem. Sie zeigt eine Industrie, die gelernt hat, katastrophale Sterberaten als Betriebskosten einzupreisen.
Die Logik der industriellen Bestäubung
Der Motor dieser fieberhaften Vermehrung ist kein plötzliches ökologisches Bewusstsein, sondern ein unersättlicher ökonomischer Appetit. Dieser Appetit hat einen Namen: die kalifornische Mandel. Die USA haben ihre Anbaufläche für Mandeln seit 2007 mehr als verdoppelt, um einen globalen Markt für Mandelmilch und Müsliriegel zu bedienen. Diese gigantische Monokultur – 170 Millionen Bäume, die fast zeitgleich blühen – ist ein ökologisches Niemandsland, das ohne künstliche Bestäubung keinen einzigen Dollar erwirtschaften würde. Sie benötigt den „Super Bowl der Imkerei“: die Anlieferung von fast allen verfügbaren Honigbienenvölkern der Nation auf LKW-Ladeflächen.
Diese Wanderimkerei, wie sie von Betrieben wie Budke Bees praktiziert wird, ist die ultimative Perversion der Biene als Nutztier. Die Völker werden Tausende von Kilometern transportiert – von North Dakota über Texas nach Kalifornien und weiter zu Apfel- oder Blaubeerplantagen. Diese Reise ist ein Albtraum für die Insekten. Sie sind auf engstem Raum eingesperrt, leiden unter Hitze, Stress und sterben zu Tausenden beim Transport.
Außerhalb der kurzen Blütephasen gibt es in den Monokulturen für sie nichts zu fressen. Sie werden künstlich mit Zucker- oder Maissirup ernährt, einer Mangeldiät, die sie weiter schwächt. Dieser permanente Stress macht die Völker extrem anfällig für jene Krankheiten und Parasiten, die dann als „Colony Collapse Disorder“ diagnostiziert werden. Das System ist nicht nur von den Bienen abhängig; es ist der größte einzelne Faktor, der sie krank macht.
Die künstliche Flut: Steueranreize und Hobby-Idealismus
Zur industriellen Nachfrage gesellt sich ein zweiter, ebenso potenter Treiber des Honigbienen-Booms: fehlgeleitete staatliche Anreize und urbaner Idealismus. Das Fanal dieser Entwicklung ist Texas. Der Bundesstaat erlebte einen explosionsartigen Anstieg an Imkereibetrieben. Der Grund ist kein neu entdecktes Natur-Ethos, sondern ein Steuergesetz aus dem Jahr 2012. Dieses erlaubt es Grundbesitzern mit Flächen zwischen fünf und zwanzig Acres, massive landwirtschaftliche Steuererleichterungen zu erhalten, wenn sie dort Bienen halten – oft nur sechs Völker.
Diese Regelung, von dem pensionierten Wildtierbiologen Dennis Herbert mit der Absicht initiiert, die Bestäubung zu fördern, hat eine Goldgräberstimmung ausgelöst. Firmen wie Honey Bees Unlimited verpachten und managen Tausende von Völkern für Landbesitzer, denen es primär um die Steuerersparnis geht, nicht um die Bienen. Das Gesetz hat das nördliche Texas mit einer „Decke aus Bienen“ überzogen, in einer Region, die traditionell kein „Bienenland“ ist.
Parallel dazu treibt eine urbane Bewegung, motiviert von der Sorge um das „Bienensterben“, die Zahl der Bienenstöcke in die Höhe. Gutmeinende Bürger installieren Völker auf Dächern und in Gärten, um „die Bienen zu retten“. Das Problem: Beide Entwicklungen – die steuergetriebene und die ideologiegetriebene – sind ökologisch kontraproduktiv. Sie adressieren nicht das Defizit an Bestäubern, sondern sie verschärfen es.
Das eigentliche Opfer: Die Wildbiene
Die Honigbiene, Apis mellifera, ist in Nordamerika kein heimisches Tier. Sie wurde von europäischen Siedlern eingeführt. Sie ist ein „sehr erfolgreicher Eindringling“. Die 4.000 heimischen Wildbienenarten – von Hummeln bis zu winzigen, spezialisierten Solitärbienen – sind die wahren, oft übersehenen Motoren der Biodiversität. Sie bestäuben Schätzungen zufolge 80 Prozent aller blühenden Pflanzen und sind essenziell für das Funktionieren von Wäldern, Prärien und Feuchtgebieten.
Diese Wildbienen sterben leise. Mehr als die Hälfte der Arten, für die überhaupt Daten existieren, befindet sich im Niedergang, fast 40 Prozent gelten als vom Aussterben bedroht. Sie leiden unter denselben Stressoren wie die Honigbiene: Pestizide, Klimawandel und Habitatverlust. Doch sie haben keine Imker, die sie füttern, mit Medikamenten behandeln oder ihre Verluste durch Zucht ausgleichen.
Und sie sehen sich einer neuen, unsichtbaren Bedrohung gegenüber: Mikroplastik. Jüngste Forschungen zeigen, dass Bienen diese Partikel aus der Luft, dem Wasser und von Pflanzen aufnehmen. Die Folgen sind verheerend. Plastikpartikel können die Bienen anfälliger für bakterielle Infektionen machen und ihre Sterblichkeit drastisch erhöhen. Sie schädigen den Darm und wandern bis ins Gehirn. Der vielleicht perfideste Mechanismus ist kognitiv: Bienen, die Mikroplastik ausgesetzt waren, verlieren die Fähigkeit, Düfte mit einer Belohnung zu assoziieren. Sie „vergessen“ buchstäblich, welche Blumen Nektar bieten. Gleichzeitig verstopfen Plastikpartikel physisch die Narben der Blüten und verhindern so die Bestäubung.
In diese toxische Gemengelage platzt nun der künstliche Boom der Honigbiene. Ein einziges Honigbienenvolk zählt Zehntausende Individuen. Die massive Dichte an Völkern in urbanen Räumen oder in der Nähe von texanischen „Steueroasen“ führt zu einer erdrückenden Nahrungskonkurrenz. Die Honigbienen, effektive Generalisten, plündern die Ressourcen, die den oft kleineren, spezialisierten Wildbienen zum Überleben fehlen. Die Analogie von Experten ist treffend: Honigbienen zu halten, um die Bienenvielfalt zu retten, ist, als würde man Hühner züchten, um bedrohte Wildvogelarten zu schützen. Es ist absurd.
Blinde Flecken: Die Demontage der Wissenschaft
Man könnte annehmen, dass eine derart komplexe ökologische Krise zu einer Intensivierung der Forschung führen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Die USA sind dabei, das wissenschaftliche Fundament für das Verständnis der Wildbienen aktiv zu zerstören.
Das Epizentrum dieser Tragödie ist ein unscheinbares Labor in Maryland, das von Sam Droege geleitet wird, einem der weltweit führenden Experten für heimische Bienen. Seit über 23 Jahren beherbergt sein Labor eine der größten und wichtigsten Referenzsammlungen des Landes. Droege und sein Team sind eine der wenigen Instanzen, die die Tausenden von Wildbienenarten überhaupt korrekt identifizieren können – eine Grundvoraussetzung für jedes Monitoring.
Dieses Labor, dessen Budget minimal ist, soll nun im Rahmen der Haushaltsvorschläge der Trump-Administration geschlossen werden. Die offizielle Begründung ist die Eliminierung von Programmen, die sich auf „soziale Agenden (z.B. Klimawandel)“ konzentrieren, zugunsten einer Fokussierung auf „Dominanz bei Energie und kritischen Mineralien“.
Der Verlust dieses „unersetzlichen“ Labors wäre verheerend. Es ist der zentrale Knotenpunkt, der Daten für Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten liefert und Universitäten sowie Hobbyforscher bei der Identifizierung unterstützt. Die Schließung bedeutet, dass die Nation kollektiv erblindet. Wir verlieren die Fähigkeit zu messen, was wir verlieren. Während wir Milliarden Honigbienen auf die Felder pumpen, löschen wir das Gedächtnis der Biodiversität.
Die Antithese: Ein Blick nach China
Wie fragil und extrem das amerikanische System ist, zeigt der globale Vergleich. In China, wo ebenfalls Millionen von Völkern gehalten werden, ist die Situation fundamental anders. Die Bienenbestände sind dort stabil oder wachsen, und die massiven Verluste wie in den USA sind weitgehend unbekannt.
Der Unterschied liegt nicht in einer überlegenen Technologie, sondern im Gegenteil: in der Abwesenheit von Industrialisierung. Die chinesische Imkerei ist kleinteilig, erfahrungsbasiert und lokal angepasst. Imker wie Wang Shi betreiben ihre Arbeit als Handwerk, nicht als mobilen „Bestäubungsservice“. Die Bienen werden nicht über Tausende Kilometer transportiert, und die Varroa-Milbe wird oft durch sorgfältige manuelle Selektion in Schach gehalten, statt durch chemische Mittel, gegen die in den USA bereits Resistenzen entstehen.
Doch auch dieses Modell ist nicht übertragbar und hat seine eigene existenzielle Krise: den Nachwuchs. Die Imker in China überaltern dramatisch; die Jüngeren sehen in der harten, ertragsschwachen Arbeit keine Zukunft. Chinas System ist stabil, aber es stagniert. Das US-System hingegen ist hyper-dynamisch, aber fundamental instabil. Es ist ein industrielles Kartenhaus, das nur durch permanenten, energieintensiven Input aufrechterhalten wird. Es ist völlig abhängig von einer einzigen Art, die für eine einzige Monster-Monokultur optimiert wird.
Was zu tun wäre: Eine Neuausrichtung des Fokus
Die Fixierung auf die Honigbiene ist eine gefährliche Sackgasse. Sie beruhigt das Gewissen, verschärft aber die ökologische Krise. Wenn wir die Bestäubung und damit unsere Ernährungsgrundlagen sichern wollen, muss ein radikales Umdenken stattfinden.
Erstens muss der Schutz der 4.000 Wildbienenarten Priorität erlangen. Der effektivste Weg dorthin ist nicht das Aufstellen von Bienenstöcken, sondern die Wiederherstellung von Lebensraum. Das bedeutet: das Anpflanzen einheimischer Blühpflanzen, die zu unterschiedlichen Zeiten blühen, die Reduzierung des Mähens und die Schaffung von Nistplätzen. Zweitens muss die urbane Imkerei reguliert werden. Städte müssen Obergrenzen für die Dichte von Bienenvölkern einführen und eine Registrierungspflicht durchsetzen, um die Konkurrenz für Wildbienen zu begrenzen und die Ausbreitung von Krankheiten zu kontrollieren. Drittens, und das ist der Kern, muss die Landwirtschaft ihre fatale Abhängigkeit von Monokulturen und der damit verbundenen Wanderimkerei reduzieren. Solange die kalifornische Wüste zu einer Mandelplantage umfunktioniert wird, die ohne einen nationalen Notstand an LKW-Transporten nicht überleben kann, wird das System Bienen als Verbrauchsmaterial behandeln.
Wir haben die Biene zu einem Symbol gemacht. Doch wir behandeln sie nicht wie ein schützenswertes Lebewesen, sondern wie eine austauschbare Ressource in einer industriellen Gleichung. Die Honigbiene wird überleben – als Nutztier in der Obhut des Menschen. Die wirkliche Frage ist, ob das Ökosystem, das sie ersetzen soll, dies auch tut.


