
Der Spätherbst 2025 legt sich wie ein kalter Schleier über die Ukraine und bringt eine neue, düstere Eskalation in einem Krieg, der sich längst in zwei Realitäten aufgespalten hat. Es ist ein Zwitterwesen: An der Front im Donbass, in den zerborstenen Straßen von Pokrowsk, tobt ein brutaler, fast schon archaischer Häuserkampf, der an die blutigsten Schlachten des 20. Jahrhunderts erinnert. Gleichzeitig, nur wenige Kilometer dahinter und hunderte Kilometer tief im jeweiligen Hinterland, findet ein zweiter, hypermoderner Krieg statt: ein systematischer Abnutzungskrieg per Knopfdruck, geführt von Drohnenpiloten, die ihre Ziele auf Bildschirmen verfolgen.
Diese beiden Gesichter des Krieges – der physische Kampf um Ruinen und der systemische Krieg gegen die Infrastruktur – sind kein Widerspruch. Sie sind die konsequente Weiterentwicklung einer Zermürbungsstrategie. Im dritten Jahr der Vollinvasion geht es nicht mehr um schnelle Vorstöße, sondern um die schiere Existenz. Während Moskau auf Propaganda, schiere Masse und „Energieterror“ setzt, um die Ukraine in die Knie zu zwingen, antwortet Kiew mit technologischer Improvisation und einer fast schon beunruhigenden „Gamifizierung“ des Tötens, um das eigene Überleben zu sichern.

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Pokrowsk: Realität und Propaganda einer „Festung“
Im Zentrum der physischen Schlacht steht die Stadt Pokrowsk. Was dort geschieht, ist ein Lehrstück über die Diskrepanz zwischen russischer Propaganda und der Realität des Schlachtfelds. Am vergangenen Sonntag meldete der russische Generalstabschef Waleri Gerasimow vollmundig, mehr als 5.000 ukrainische Soldaten seien in der Stadt eingeschlossen. Kremlchef Wladimir Putin sekundierte und bot gar ausländischen Journalisten an, den „Kessel“ zu besichtigen.
Doch die militärische Realität, bestätigt durch ukrainische Militärs, westliche Analysten und sogar russische Militärblogger, sieht fundamental anders aus. Von einer Einkesselung kann keine Rede sein. Stattdessen hat sich eine Taktik durchgesetzt, die Analysten bereits in Awdijiwka beobachtet haben: Russische Truppen infiltrieren die Stadt nicht mit massiven Panzerkolonnen, sondern in kleinen Infanteriegruppen. Diese Gruppen, teils nur zwei oder drei Mann stark, nutzen die dichte Bebauung und den Mangel an ukrainischen Infanteristen, um sich an den Verteidigungsstellungen vorbeizuschleichen und sich in Kellern oder verlassenen Gebäuden festzusetzen.
Was folgt, ist ein zermürbender Straßenkampf, bei dem die Frontlinie von Haus zu Haus, von Keller zu Keller verläuft. Ukrainische Spezialkräfte versuchen, diese „angesammelten“ russischen Soldaten – deren Zahl Kiew auf etwa 200 schätzt – aufzuspüren und zu vertreiben.
Für die ukrainische Führung wird diese Situation zu einem gefährlichen Déjà-vu. Die Strategie, Städte wie Pokrowsk als „Festungen“ zu nutzen, um den russischen Vormarsch zu verlangsamen und dem Angreifer maximale Verluste zuzufügen, war lange erfolgreich. Die Zahlen geben dieser Taktik zunächst recht: Russland verlor beim Vormarsch auf Pokrowsk bis September 2025 fast 3.000 Einheiten Militärgerät, dreimal so viel wie die Ukraine.
Doch diese Strategie hat Tücken. Sie funktioniert nur, solange die Verteidiger genug Infanterie haben, um die urbanen Räume zu halten. Fehlen diese Kräfte, wird die dichte Bebauung vom Vorteil zum tödlichen Nachteil, da sich Angreifer hindurchschleichen können. Das größte Risiko ist jedoch der Zeitpunkt des Rückzugs. Wie schon in Awdijiwka droht der Befehl zum Abzug zu spät zu kommen. Der Rückzugskorridor westlich von Pokrowsk ist bereits auf gefährliche drei Kilometer geschrumpft. Zum Vergleich: In Awdijiwka betrug der Korridor am Ende zwei Kilometer – in Zeiten allgegenwärtiger Drohnen kaum besser als null.
Die Logistik wird zur Achillesferse. Die letzte verbliebene Nachschubroute nach Pokrowsk liegt bereits unter russischer Beobachtung. Soldaten berichten, dass sie teilweise per Drohne mit Wasser versorgt werden müssen, weil der Transport auf Fahrzeugen zu gefährlich ist. Die Russen nutzen ihre Vorteile geschickt aus: Sie setzen auf schlechtes Wetter, das die ukrainische Luftaufklärung behindert, und nutzen Berichten zufolge sogar Zivilkleidung, um sich unerkannt in der Stadt zu bewegen und Drohnen aus Wohnhäusern zu starten.
Der doppelte Infrastrukturkrieg: „Energieterror“ gegen zivile „Jagd“
Parallel zu dieser brutalen Landschlacht eskaliert der systemische Krieg gegen die Infrastruktur. Auch hier zeigt sich eine Asymmetrie der Ziele und Methoden. Russland hat seine Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung massiv ausgeweitet. Kiew meldete einen der schwersten Luftangriffe seit 2022, mit über 650 Drohnen und 50 Raketen in einer einzigen Nacht. Der Chef des größten privaten Energieversorgers DTEK spricht offen von Moskaus Ziel, das ukrainische Energiesystem vollständig zu zerstören. Dieser „systematische Energieterror“ trifft die Zivilbevölkerung mit voller Wucht: Es gibt Tote und Verletzte, darunter Kinder, und landesweite Ausfälle von Strom, Wasser und Fernwärme – kurz vor Einbruch eines Winters, der kälter als der letzte werden soll.
Doch Moskaus Strategie geht über die Zerstörung von Kraftwerken hinaus. Ein neuer Bericht der Vereinten Nationen wirft Russland eine noch finsterere Taktik vor: die gezielte Jagd auf Zivilisten mit Drohnen in frontnahen Gebieten wie Cherson. Der 17-seitige Bericht, der auf Hunderten Videos und Zeugeninterviews basiert, beschreibt, wie russische Drohnen einzelne Zivilisten – eine Frau beim Parken ihres Autos, Menschen im Garten – über weite Strecken verfolgen und dann mit Sprengsätzen angreifen. Das Ziel sei, so die UN-Ermittler, eine „koordinierte Strategie“, um die Menschen aus diesen Regionen zu vertreiben.
Diese Angriffe, die auch Ersthelfer wie Feuerwehrleute und Sanitäter ins Visier nehmen, zerschneiden die soziale Infrastruktur. Sie führen zu einem starken Bevölkerungsrückgang und verändern die Demografie ganzer Landstriche nachhaltig.
Die Ukraine schlägt ihrerseits tief in russisches Territorium zurück, verfolgt dabei aber ein anderes strategisches Ziel. Kiews Langstreckendrohnen zielen nicht auf zivile Wohngebiete, sondern auf die Adern der russischen Kriegsmaschinerie: Ölraffinerien, Treibstoffdepots und Logistikknotenpunkte. Seit Beginn des Jahres gab es über 160 solcher Schläge. Der wirtschaftliche Schaden ist beträchtlich. Westliche Analysten und die Internationale Energieagentur bestätigen, dass die Angriffe Russlands Raffineriekapazitäten um etwa 500.000 Barrel pro Tag reduziert, zu Benzinknappheit geführt und Exporte gedrosselt haben.
Die Wirksamkeit dieser ukrainischen Kampagne lässt sich auch an einer anderen Entwicklung ablesen: Moskau sah sich gezwungen, im Eilverfahren ein Gesetz zu verabschieden, das den Einsatz von Reservisten zum Schutz der eigenen kritischen Infrastruktur im Inland erlaubt. Ein klares Eingeständnis, dass die ukrainischen Drohnen die russische Luftverteidigung überfordern und empfindliche Lücken reißen.
„Bravel Market“: Wenn der Krieg zum Videospiel wird
Diese erfolgreiche Drohnenkampagne ist das Ergebnis einer bemerkenswerten ukrainischen Anpassungsleistung. In geheimen Werkstätten auf dem Land werden nachts Drohnen wie die „Liutyi“ montiert. Gebaut aus einfachsten Teilen, ähneln sie eher Baumarkt-Projekten als Hochtechnologie-Waffen. Doch sie sind günstig, effektiv und ihre Reichweite wurde auf über 1.000 Kilometer verdoppelt.
Um die Motivation und Effizienz dieser Hunderter neuer Drohnenteams zu steigern, hat die ukrainische Regierung ein System eingeführt, das den Krieg auf zynische Weise „gamifiziert“. In einem internen Wettbewerb sammeln Einheiten Punkte für erfolgreiche Angriffe. Die Regeln sind klar: einen russischen Soldaten zu verwunden bringt acht Punkte, ihn zu töten zwölf. Die Zerstörung eines Panzers ist 40 Punkte wert. Der Jackpot: einen Soldaten lebend gefangen zu nehmen, bringt 120 Punkte.
Diese Punkte sind mehr als nur Ruhm. Sie sind die Währung im „Bravel Market“, einem internen Online-Shop, über den die Einheiten ihre Punkte gegen neue Ausrüstung eintauschen können – von einfachen Kamikazedrohnen bis hin zu schweren „Vampir“-Drohnen.
Die ethischen Bedenken einer solchen „Gamifizierung“ des Tötens, bei der Menschenleben in Punktwerte umgerechnet werden, liegen auf der Hand. Doch ukrainische Offizielle wie Digitalminister Mychajlo Fedorow wischen sie beiseite: „Was unmenschlich ist, ist, einen umfassenden Krieg im 21. Jahrhundert zu beginnen“. Es sei ein notwendiges Mittel zur Motivation.
Die Anpassung dieses Systems zeigt auch, wie sich die russische Taktik verändert hat. Anfangs brachte der Tod eines russischen Soldaten nur zwei Punkte. Dieser Wert wurde inzwischen auf zwölf verdoppelt. Warum? Weil Panzer auf dem modernen Schlachtfeld durch Drohnen zu leichten Zielen geworden sind und seltener auftauchen. Russlands Hauptangriffsmittel ist nun die Infanterie, die in kleinen Gruppen vorrückt. Um die monatlich etwa 25.000 neuen russischen Rekruten zu neutralisieren, so die Rechnung eines ukrainischen Kommandeurs, muss die Priorität auf der Infanteriebekämpfung liegen.
„Wunderwaffeln“ und nervöse Nachbarn
Während die Ukraine auf eine „gamifizierte“, dezentrale und improvisierte Kriegsführung setzt, verfällt der Kreml in alte Großmachts-Reflexe. Angesichts neuer US-Sanktionen gegen die Ölkonzerne Rosneft und Lukoil und einer stockenden Offensive präsentiert Putin der Weltöffentlichkeit eine Parade angeblicher „Wunderwaffen“.
Dazu gehören die nuklear betriebene Interkontinentalrakete „Burewestnik“, ein „fliegendes Atomkraftwerk“, und der Nukleartorpedo „Poseidon“, der Tsunamis auslösen soll. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Propaganda als Theater. Experten und sogar der russische Volksmund nennen die Geräte längst „Wunderwaffeln“.
Die Realität ist ernüchternd: Von 13 „Burewestnik“-Tests bis 2019 schlugen alle fehl; einer endete mit einer tödlichen Explosion. Die „Poseidon“ hat nur ein einziges, veraltetes U-Boot als Trägersystem. Die gehypte Rakete „Sarmat“ explodierte beim letzten Test im Startschacht, und der „Armata“-Panzer ging nie in Serie, weil er zu teuer ist – stattdessen schickt Moskau Panzer aus den 1950er Jahren an die Front. Selbst die „Burewestnik“, so sie denn flöge, wäre eine simple Unterschall-Rakete mit der Geschwindigkeit eines Passagierflugzeugs.
Der innen- und außenpolitische Zweck dieses nuklearen Theaters ist offensichtlich: Es ist eine Ablenkung. Es soll Stärke demonstrieren, während die eigene Wirtschaft unter den Sanktionen ächzt und die Rüstungsproduktion, etwa bei Panzern, erstmals seit Kriegsbeginn rückläufig ist. Es ist Propaganda für ein Land, das ein Haushaltsloch von fünf Billionen Rubel aufweist und massive Kürzungen im Gesundheitswesen und im zivilen Flugzeugbau vornimmt.
Währenddessen wächst an der NATO-Außengrenze die Nervosität. Die polnische Luftwaffe musste diese Woche dreimal aufsteigen, um russische Iljuschin-Aufklärungsflugzeuge über der Ostsee abzufangen. Diese Flüge ohne Transponder sind ein klares Sicherheitsrisiko, und die polnischen Abfangeinsätze sind eine ebenso klare Machtdemonstration und ein Signal der lückenlosen Überwachung.
In Washington versucht die Regierung Trump derweil, einen diplomatischen Pfad auszuloten. Nach einem Treffen mit Chinas Präsident Xi Jinping kündigte Trump an, man wolle „zusammenarbeiten“, um den Krieg zu beenden. Gleichzeitig scheiterte ein russischer Sondergesandter, Kirill Dmitrijew, in Washington offenbar daran, die neuen Sanktionen gegen den Ölsektor abzuwenden.
Der Krieg im Herbst 2025 wird damit nicht nur auf den Schlachtfeldern entschieden, sondern auch in den Propagandaministerien, an den Verhandlungstischen und auf den Anzeigetafeln der „Bravel Market“-App. Die Frage, ob die Ukraine Pokrowsk halten kann, ist nicht nur eine militärische, sondern auch eine psychologische – ein Kampf um die Erzählung in einem Krieg, der längst jede klare Frontlinie verloren hat.


