
Die Karibik, oft als Blaupause des Paradieses missverstanden, ist zur Bühne einer tödlichen Eskalation geworden. Seit September haben US-Streitkräfte mindestens 14 Boote im Karibischen Meer und im Ostpazifik zerstört. Mehr als 60 Menschen sind tot. Die offizielle Begründung der Trump-Administration klingt nach entschlossener Innenpolitik: Man führe einen notwendigen Schlag gegen „Narco-Terroristen“, um die Flut von Fentanyl zu stoppen, die Amerikas Städte vergiftet.
Doch diese Erzählung ist so löchrig wie die Rümpfe der attackierten Boote. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die Operation als eine gefährliche, rechtlich und faktisch unhaltbare Machtdemonstration. Unter dem Deckmantel der Drogenkrise verfolgt die Administration eine fragmentierte Agenda aus Regime-Change-Fantasien und Migrationsabwehr, die nicht nur die Gewalt eskaliert, sondern auch die Grundpfeiler amerikanischer Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Kontrolle demontiert.

US Politik Deep Dive: Der Podcast mit Alana & Ben
Die Fiktion der Begründung
Man muss kein Militärstratege sein, um die fundamentalen Risse in diesem offiziellen Narrativ zu erkennen. Die Drogenbekämpfungsbehörde DEA und das Heimatschutzministerium (DHS) widersprechen der Logik des Weißen Hauses fundamental: Das Fentanyl, das die USA heimsucht, stammt überwiegend aus mexikanischen Laboren. Die nun attackierten Karibikrouten werden, wie Senator Mark Kelly anmerkte, primär für den Kokaintransport nach Europa genutzt.
Noch fataler ist die Unschärfe der Ziele. Die Administration präsentiert keine Beweise, wer sich auf den Schiffen befand. Kolumbiens Präsident behauptete, eines der ersten Ziele sei ein unschuldiger Fischer gewesen. Die Bilder zeigen oft kleine Fischerboote, die kaum in der Lage wären, die tausend Meilen bis zur US-Küste zurückzulegen. Es ist die Anwendung tödlicher Gewalt auf Verdacht – ein Vorgehen, das man sonst nur aus Kriegsgebieten kennt. Die Administration hat es bisher versäumt, Mechanismen zur Verifizierung der Ziele offenzulegen, die den Einsatz tödlicher Gewalt gegen nicht unmittelbar bedrohliche Personen rechtfertigen würden.
Der vielleicht größte Widerspruch, der die gesamte Operation ad absurdum führt, ist ökonomischer Natur. Während das Militär Boote bombardiert, um dem Maduro-Regime in Venezuela angeblich Einnahmequellen zu entziehen, erteilte dieselbe Trump-Administration dem Energieriesen Chevron eine Lizenz zur Ölförderung in Venezuela. Man bekämpft das Regime also mit Raketen, während man es gleichzeitig per Öllizenz mitfinanziert.
Die semantische Aufrüstung: Vom Schmuggler zum Terroristen
Was wir hier erleben, ist ein semantischer Putsch, ein Versuch, die Realität durch Sprache neu zu definieren. Jahrzehntelang war Drogenschmuggel eine kriminelle Handlung – ein Fall für die Küstenwache und das Justizministerium, nicht für das Militär. Die Trump-Administration hat diese Doktrin pulverisiert.
Indem sie die Akteure als „Narco-Terroristen“ und „Kombattanten“ brandmarkt, verschiebt sie das gesamte Spielfeld von der Strafverfolgung (Intervention, Festnahme, Prozess) hin zur Kriegsführung (Zielerfassung, Tötung). Dieser fundamentale Bruch mit bisherigen Einsatzdoktrinen ist der juristische Dreh- und Angelpunkt der gesamten Operation.
Dieser Wechsel ist kein Versehen, er ist Kalkül. Die Administration informierte den Kongress, der Präsident habe „determiniert“, dass sich die USA in einem formellen bewaffneten Konflikt mit den Drogenkartellen befänden. Dies geschah unilateral, ohne Kriegserklärung des Kongresses, basierend auf einer internen administrativen Entscheidung. Rechtsexperten quer durch das politische Spektrum nennen das Vorgehen beim Namen: „Mord“ oder, im Kontext eines Konflikts, ein Kriegsverbrechen.
Doch die Hoffnung auf eine juristische Aufarbeitung ist trübe. Der Oberste Gerichtshof gewährte Präsidenten erst letztes Jahr weitreichende Immunität für offizielle Amtshandlungen, was wohl auch Befehle an das Militär einschließt. Selbst untergeordnete Beamte, die die Befehle ausführten, könnten durch ein internes Memo des Office of Legal Counsel (OLC) im Justizministerium geschützt sein, das die Operation als rechtmäßig absegnet – selbst wenn dieses Memo fehlerhaft ist.
Auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ist weitgehend machtlos. Die USA sind kein Mitgliedsstaat, und die Angriffe finden in internationalen Gewässern statt. Ein juristisches schwarzes Loch. Einzige Ausnahme: Sollte Trump seine Drohung wahr machen und Landziele in Venezuela – einem IStGH-Mitgliedsstaat – angreifen, könnte sich das Blatt wenden und eine Jurisdiktion des Gerichts begründet werden.
Im Labyrinth der Motive: Was Washington wirklich will
Wenn die Fentanyl-Begründung ein Trugschluss ist, was ist dann der wahre Antrieb? Die Antwort liegt nicht in einer einzelnen Strategie, sondern in einem chaotischen Venn-Diagramm widerstreitender Interessen im Weißen Haus.
Da ist Außenminister Marco Rubio, der den venezolanischen Präsidenten Maduro als Tyrannen sieht und auf einen Regimewechsel drängt, um die Opposition zu unterstützen. Ihm gegenüber steht Stephen Miller, für den Venezuela primär ein Migrationsproblem ist; die Schläge sollen Instabilität eindämmen und den Migrantenstrom stoppen. Und über allem thront der Präsident selbst, der seine Frustration über Maduro aus seiner ersten Amtszeit nährt und das Militär gerne als eine Art globale Polizei einsetzen möchte. Die Militärschläge sind der kleinste gemeinsame Nenner dieser fragmentierten Agenda.
Diese Gemengelage ignoriert die schmerzhaften Lektionen der US-Geschichte in Lateinamerika. Der CIA-Putsch in Guatemala 1954 oder die gescheiterte Invasion in der Schweinebucht 1961 haben nicht nur zu Blutvergießen und Diktaturen geführt, sondern auch einen tief verwurzelten Anti-Amerikanismus („anti-Yanqui“) genährt, der bis heute nachwirkt.
Die Administration scheint zu glauben, sie könne Maduro durch militärischen Druck mürbe machen, sodass er flieht oder das eigene Militär putscht. Doch selbst wenn dieser Plan aufgeht, droht ein „Libyen-Szenario“: Man erinnert sich an den Sturz Gaddafis, der kein stabiles System, sondern ein von Milizen zerfressenes Machtvakuum hinterließ. Die Risiken eines solchen Kollapses in Venezuela – einem Land, das bereits am Boden liegt – werden offenbar billigend in Kauf genommen.
Ein Flugzeugträger als Brandbeschleuniger
Die Rhetorik allein ist gefährlich, doch die Hardware ist furchteinflößend. Die Entsendung der USS Gerald R. Ford, des größten und modernsten Flugzeugträgers der Welt, ist kein routinemäßiges Manöver. Es ist die größte Ansammlung von US-Seemacht in der Region seit der Kubakrise 1962. Diese massive Präsenz dient nicht der Jagd auf kleine Fischerboote.
Sie ist die materielle Voraussetzung für den nächsten logischen Schritt: Luftangriffe auf Landziele in Venezuela. Die Möglichkeit, von See aus tief ins Land hineinzuwirken, verändert die geopolitische Dynamik fundamental und erhöht das Eskalationsrisiko exponentiell.
Die Reaktion aus Caracas ließ nicht lange auf sich warten. In internen Dokumenten, die an die Öffentlichkeit gelangten, fleht Präsident Maduro Moskau, Peking und Teheran um militärische Unterstützung an. Die Wunschliste ist konkret: Radarsysteme aus China, Drohnen und GPS-Störsender aus dem Iran und aus Russland Raketen sowie die Reparatur der maroden Suchoi-Kampfjetflotte.
Auch wenn Moskau, selbst im Ukraine-Krieg gebunden und auf andere Partner in Lateinamerika schielend, bisher nur verhalten reagiert hat, zeigt dies die globale Dimension der Eskalation. Russlands Unterstützung mag reduziert sein, doch der Nutzen für Putin ist bereits real: Die USA binden über zehn Prozent ihrer Marinekapazitäten in der Karibik und lenken wertvolle Aufmerksamkeit von Europa ab.
Gleichzeitig treibt Washington einen Keil in die Region. Während Kolumbiens Präsident Petro die Schläge scharf kritisiert, agiert Trinidad und Tobago quasi als Komplize. Premierministerin Persad-Bissessar heißt US-Kriegsschiffe willkommen und erklärt, sie sähe die Schmuggler lieber „in Stücke gerissen“. Diese Spaltung lähmt eine geschlossene regionale Antwort.
Die Festung des Schweigens: Wie das Pentagon die Öffentlichkeit aussperrt
Diese militärische Eskalation findet in einem Vakuum der Transparenz statt. Parallel zur Aufrüstung auf See hat Verteidigungsminister Pete Hegseth die Pressefreiheit im Pentagon de facto abgeschafft. Journalisten wurden vor die Wahl gestellt, entweder ihre journalistische Unabhängigkeit aufzugeben oder ihre Pässe abzugeben; die meisten wählten Letzteres.
Informationen über Truppenbewegungen von historischem Ausmaß, wie die Verlegung der USS Gerald R. Ford, werden per Tweet verkündet. Pressekonferenzen, auf denen kritische Nachfragen gestellt werden könnten, finden nicht statt. Es herrscht ein „Klima der Angst“, das jede demokratische Kontrolle und Rechenschaftspflicht untergräbt.
Das Schweigen wird nur durch laute Alarmsignale aus dem System selbst gebrochen. Der unerwartete Rücktritt von Admiral Alvin Holsey, dem Chef des U.S. Southern Command (SOUTHCOM) und damit zuständig für die Region, spricht Bände. Berichten zufolge gab es massive Spannungen zwischen ihm und der zivilen Führung über die Rechtmäßigkeit der Operationen.
Auch im Kongress wächst die Unruhe, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven. Republikaner wie Rand Paul attackieren die Administration wegen der bloßen Illegalität, Menschen ohne Prozess zu töten, und der Gefahr, Unschuldige zu treffen. Demokraten wie Mark Kelly kritisieren die parteiischen Briefings, die den Kongress spalten, und die akute Gefahr einer Eskalation in einen Krieg mit Venezuela.
Diese Operationen stehen nicht isoliert da. Sie fügen sich ein in ein größeres, beunruhigendes Muster, das auch den Einsatz der Nationalgarde in amerikanischen Städten umfasst. Es ist die schleichende Neuausrichtung des mächtigsten Militärapparats der Welt: weg von der Abwehr externer Bedrohungen, hin zur Bekämpfung diffuser „innerer“ Feinde oder hemisphärischer Probleme – ob nun Demonstranten in D.C. oder Fischerboote in der Karibik. Diese Verschiebung könnte das Selbstverständnis der US-Streitkräfte als apolitische, extern fokussierte Kraft nachhaltig beschädigen.
Ein Angriff auf das Recht
Was in der Karibik geschieht, ist mehr als eine geopolitische Machtprobe. Es ist ein Angriff auf die Fundamente der rechtsstaatlichen Ordnung. Eine Operation, die auf einer nachweislich falschen Prämisse (Fentanyl) basiert, von widersprüchlichen Motiven (Migration, Regime Change) angetrieben wird und durch die systematische Ausschaltung der öffentlichen Kontrolle (Presse-Aussperrung) gedeckt ist.
Die Trump-Administration führt nicht nur Schiffe, sondern auch das Recht an den Rand des Abgrunds. Sie schafft einen Präzedenzfall, in dem das Militär jederzeit und überall zum Richter und Henker werden kann, solange der Präsident einen „Konflikt“ „determiniert“. Die über 60 Toten sind die ersten Opfer dieser neuen Doktrin. Die größeren Opfer könnten die Wahrheit und das Recht selbst sein.


