Glaube, Macht, Missbrauch: Die Krise der amerikanischen Sittenwächter

Illustration: KI-generiert

Es war ein Akt der moralischen Abgrenzung, ein demonstratives Ziehen einer roten Linie. Als sich die Anglican Church in North America (ACNA) 2009 gründete, tat sie dies aus tief empfundenem Protest. Konservative Gemeinden spalteten sich von der Episcopal Church ab, weil diese mit der Weihe eines offen schwulen Bischofs einen, in ihren Augen, unhaltbaren liberalen Weg eingeschlagen hatte. Die ACNA sollte ein Gegenentwurf sein: ein Hort der Tradition, der biblischen Treue und der unzweideutigen moralischen Klarheit.

Fünfzehn Jahre später blickt diese Kirche in ihren eigenen Abgrund. Die Festung, die man gegen den angeblichen Sittenverfall der Außenwelt errichtet hatte, scheint von innen heraus zu faulen. Die Denomination wird von einer Führungskrise erschüttert, die so fundamental ist, dass sie die bloße Existenzberechtigung der Kirche infrage stellt. Im Zentrum steht der mächtigste Mann der Kirche, Erzbischof Stephen Wood, dem sexueller Übergriff und ein manipulativer Missbrauch seiner Macht vorgeworfen wird.

Sein Fall ist kein Einzelfall. Er ist, wie Kritiker aus den eigenen Reihen beklagen, lediglich das sichtbarste Symptom einer Krankheit, die tiefer sitzt – einer Struktur, die darauf ausgelegt scheint, sich selbst um jeden Preis zu schützen.

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Die Anatomie einer Anschuldigung

Die Vorwürfe gegen Stephen Wood, der nicht nur Erzbischof, sondern auch Rektor einer Megakirche in South Carolina und Bischof einer Diözese ist, lesen sich wie ein Lehrbuch über den Missbrauch geistlicher Autorität. Claire Buxton, eine ehemalige Mitarbeiterin und geschiedene Mutter, wirft ihm vor, im April 2024 versucht zu haben, sie in seinem Büro zu küssen. Der Vorfall soll in einem Raum stattgefunden haben, der mit den ausgestopften Köpfen von Tieren dekoriert ist.

Doch es ist der Kontext, der die Tat so schwerwiegen lässt. Buxton beschreibt ein monatelanges Muster der unangemessenen Zuwendung. Wood soll sie vor anderen „Claire Bear“ (Claire-Bärchen) genannt haben. Weit verstörender sind jedoch die finanziellen Zuwendungen. Über Monate hinweg soll Wood Buxton Tausende von Dollar zugesteckt haben – teils als Scheck aus einem kirchlichen „Gnadenfonds“ (Rector’s Mercy Fund), teils in bar. Buxton gibt an, sie habe sich unwohl gefühlt, das Geld aber angenommen, weil sie es brauchte und sich nicht traute, den mächtigen Mann vor den Kopf zu stoßen.

Dieses Vorgehen – eine Mischung aus Kosenamen, finanzieller Abhängigkeit und dem Angebot eines Luxus-Resort-Aufenthalts – wirkt wie ein kalkuliertes Manöver, um Grenzen aufzuweichen und ein Abhängigkeitsverhältnis zu schaffen. Es ist die Ausnutzung eines massiven Machtgefälles. Wood selbst bestreitet, dass die Vorwürfe stichhaltig seien.

Ein düsteres Mosaik des Versagens

Wäre Wood ein Einzeltäter, könnte die Kirche das Problem vielleicht isolieren. Doch sein Fall steht neben einem zweiten, ebenso schweren Verfahren: dem gegen Bischof Stewart Ruch III. Ihm wird kein persönliches sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen, sondern ein strukturelles Versagen. Ruch soll zugelassen haben, dass Männer mit Vorgeschichten von Gewalt oder sexuellem Fehlverhalten in seinem Bistum weiter Ämter bekleideten oder Gottesdienste besuchten. Auch dieses Verfahren wirft ein Schlaglicht auf die gestörte Justizkultur der ACNA: Das private Zoom-Verfahren war von Chaos geprägt; zwei Ankläger warfen nacheinander das Handtuch, was das Vertrauen in einen fairen Prozess tief erschütterte.

Diese beiden Spitzenfälle sind nur die jüngsten Teile eines beunruhigenden Musters. Die ACNA musste sich in den letzten Jahren wiederholt mit Fehlverhalten in der Führungsebene befassen: ein Bischof, der wegen Pornografiekonsums abgesetzt wurde; ein anderer, der wegen über 11.000 Textnachrichten an eine verheiratete Frau sein Amt verlor; und das Eingeständnis der mangelhaften Aufarbeitung von Missbrauchsvorwürfen in einer der größten Gemeinden der Kirche.

Die Festung zieht die Brücken hoch

Was die aktuellen Fälle von den früheren unterscheidet, ist der wachsende Chor derer, die nicht mehr an Einzelfehler glauben. „Dies sind nicht einfach nur Fehleinschätzungen oder isolierte Führungsfehler“, schrieb der Pastor Austin Becton in seinem Rücktrittsbrief. „Sie sind Symptome einer Struktur, die, oft unbewusst, darauf ausgelegt ist, sich selbst um jeden Preis zu schützen“. Becton selbst wurde gemaßregelt, weil er sich für die Inklusion von LGBTQ+-Christen aussprach – ein ideologischer Konflikt, der die rigorose Haltung der Kirche in Sexualfragen unterstreicht.

Wie sehr das System auf Selbstschutz programmiert ist, zeigt die Reaktion auf die offizielle Anklageschrift (das „Presentment“) gegen Wood. Nachdem die Ankläger die notwendige Anzahl an Unterschriften gesammelt hatten, konterte die Kirchenleitung mit einer Forderung, die laut den Anklägern im Kirchenrecht nicht vorgesehen ist: Alle Unterzeichner sollten ihre Aussage „unter Strafandrohung des Meineids“ erneut unterschreiben.

Für die Ankläger, darunter der Priester Rob Sturdy, ist dies ein klarer Einschüchterungsversuch. „Eine Kirche, die es nicht schafft, Opfern von sexuellem Missbrauch gerecht zu werden, sollte nicht existieren“, so Sturdy. Es ist der verzweifelte Kampf gegen eine Bürokratie, die Zeugen mit juristischen Finessen zu zermürben droht, anstatt den Vorwürfen mit Transparenz zu begegnen.

Der Architekt des Systems

Das Kernproblem der ACNA ist die gefährliche Konzentration von Macht in den Händen weniger Männer – und Stephen Wood ist das perfekte Beispiel dafür. Er ist nicht nur Erzbischof. Er behält auch seine Position als Rektor von St. Andrew’s und als Bischof der Diözese der Carolinas. Diese Ämterhäufung ist brisant.

Als Erzbischof hat Wood die Autorität, die Mitglieder der Untersuchungsausschüsse (Boards of Inquiry) zu ernennen, die darüber entscheiden, ob Anschuldigungen gegen Bischöfe überhaupt zu einem Prozess führen. Er wählt auch die Ankläger für diese Prozesse aus. Obwohl die Kirche angibt, er würde sich in seinem eigenen Fall enthalten, bleibt er als Bischof Mitglied jenes Gremiums, das am Ende über die Strafen für verurteilte Bischöfe abstimmt.

Es ist ein System, in dem der Angeklagte potenziell die Regeln seines eigenen Verfahrens mitbestimmt. Dass dieser Mann schon früher durch einen autoritären Stil aufgefallen sein soll – Priester warfen ihm bereits 2019 öffentlich Plagiat, Mobbing und einen fragwürdigen Lebensstil vor (symbolisiert durch einen 60.000-Dollar-Truck für „Jagdausflüge“) – macht die Sache nur noch schlimmer.

Wenn die Moral zur Waffe wird

Das vielleicht bitterste Kapitel dieser Geschichte wurde im Juni 2024 geschrieben. Zwei Monate nachdem Claire Buxton Wood mit dem Vorwurf des versuchten Kusses konfrontiert hatte, wählte das Bischofskollegium ihn zum neuen Erzbischof. Dieser Umstand wirft ein katastrophales Licht auf die internen Überprüfungsmechanismen der Kirche. Entweder wussten die Bischöfe nichts von den Gerüchten, was auf ein massives Informationsdefizit hindeutet, oder sie wussten davon und ignorierten sie.

Nun steht die ACNA vor einem Scherbenhaufen. Die Kirche, die antrat, um die moralische Integrität des Anglikanismus zu retten, wird von Anschuldigungen des sexuellen Übergriffs, der Manipulation und der systemischen Vertuschung heimgesucht. Die Ironie ist kaum zu überbieten: Ausgerechnet Stephen Wood, der Mann im Zentrum des Skandals, warb noch kurz zuvor damit, dass „Safeguarding“ (Schutz vor Missbrauch) unter seiner Führung höchste Priorität genießen werde.

Die Frage, die ein populärer anglikanischer Podcast stellte – „Ist die ACNA Vergangenheit?“ – ist längst keine rhetorische mehr. Es ist die existenzielle Frage an eine Institution, ob sie bereit ist, die gleichen strengen moralischen Maßstäbe, die sie für andere anlegt, endlich auch auf sich selbst anzuwenden.

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