Amerikas patriotischer Aufstand gegen den König

Illustration: KI-generiert

Ein Land hält den Atem an, während es ein tief gespaltenes Bild seiner selbst betrachtet. Fast sieben Millionen Menschen gingen am 18. Oktober 2025 auf die Straße, von den Metropolen New York und Chicago bis in ländliche Gemeinden Montanas. Sie bildeten die größte koordinierte Demonstration der jüngeren amerikanischen Geschichte. Sie trugen bunte Kostüme, schwenkten US-Flaggen und verwandelten den Protest in ein fast karnevalistisches Volksfest. Ihr Slogan ist eine fundamentale Absage an die gegenwärtige Machtstruktur: „No Kings“ – Keine Könige.

Zur selben Zeit, im Epizentrum der Macht in Washington D.C., wird dieser Akt zivilen Protests als das genaue Gegenteil gebrandmarkt. Führende Republikaner, von Sprecher Mike Johnson bis hin zu Gouverneuren, sprechen von „Hass auf Amerika“-Kundgebungen, unterwandert von Marxisten, Anarchisten und Hamas-Sympathisanten.

Diese unüberbrückbare Dissonanz zwischen der Selbstwahrnehmung von Millionen Bürgern und ihrer Dämonisierung durch die Regierung ist mehr als nur politische Polarisierung. Es ist der sichtbare Ausdruck einer tiefen Verfassungskrise. Die „No Kings“-Bewegung ist die zivilgesellschaftliche Immunreaktion auf eine Administration unter Präsident Donald Trump, die in ihrer zweiten Amtszeit systematisch die Grenzen der exekutiven Macht verschiebt und monarchische Züge annimmt. Die aggressive Rhetorik der Republikanischen Partei ist dabei weniger eine Analyse als ein Akt der politischen Notwehr: Sie muss die Realität einer breiten, patriotischen Opposition negieren, um die autoritären Praktiken, die diese Opposition erst hervorgerufen haben, weiter decken zu können. Der Kampf um die amerikanische Demokratie wird nicht mehr primär im Kongress, sondern auf den Straßen von über 2700 Orten entschieden.

US Politik Deep Dive: Der Podcast mit Alana & Ben

Die Anatomie einer Massenbewegung

Der Erfolg dieses Protesttages ist kein Zufallsprodukt. Er ist das Ergebnis einer beispiellosen organisatorischen Professionalisierung. Während der erste „No Kings“-Protest im Juni, der sich gegen eine Militärparade zu Trumps Geburtstag richtete, bereits über fünf Millionen Menschen mobilisierte, zeigt der Zuwachs auf nun fast sieben Millionen eine signifikante Eskalation.

Treibende Kräfte sind ein dichtes Netzwerk aus etablierten Organisationen wie der Bürgerrechtsunion ACLU und einflussreichen progressiven Koalitionen wie Indivisible. Diese Gruppen haben eine Infrastruktur für den Dissens geschaffen. Sie bündeln die Wut über verschiedenste Politikfelder – von der Migration bis zum Gesundheitswesen – unter einem gemeinsamen Dach: der Verteidigung der rechtsstaatlichen Normen.

Die Bewegung lernt dabei schnell. Ein traumatisches Ereignis überschattete die Juni-Proteste: In Salt Lake City wurde ein Demonstrant versehentlich von einem Sicherheitsfreiwilligen erschossen, als dieser auf einen bewaffneten Angreifer zielte. Die Konsequenzen für die Oktober-Demonstrationen waren tiefgreifend. Die Organisatoren in Utah, die sich von der damaligen Gruppe distanzieren, setzten nun auf ein radikal pazifistisches Konzept. Tausende Freiwillige wurden landesweit in Deeskalationstechniken geschult, unterstützt von der ACLU. Ein striktes Waffenverbot für Teilnehmer wurde kommuniziert. Diese Strategie der „strategischen Frivolität“ – eine Kombination aus disziplinierter Gewaltfreiheit und der sichtbaren Freude bunter Kostüme – ist ein gezielter Schachzug. Sie nimmt der Administration und den ihr nahestehenden Medien präventiv das Narrativ der „gewalttätigen Mobs“.

Mehr als ein Shutdown – der Kern des Protests

Oberflächlich betrachtet dient der seit Wochen andauernde „Government Shutdown“ als unmittelbarer Katalysator. Die Frustration über geschlossene Behörden und ausbleibende Gehaltszahlungen treibt viele Bundesbedienstete und ihre Familien auf die Straße. Sie protestieren gegen ein politisches Patt, das die Republikaner nutzen, um massive Kürzungen im Gesundheitswesen durchzusetzen.

Doch der Shutdown ist nur der Brandbeschleuniger. Der wahre Zunder ist die als existenziell empfundene Bedrohung durch Trumps exekutive Übergriffe. Die Demonstranten artikulieren eine tief sitzende Angst vor dem „Kipppunkt zum Faschismus“, wie es Teilnehmer in New York formulieren. Es ist die Kumulation von Maßnahmen, die als Angriff auf die Gewaltenteilung und den Föderalismus gewertet werden.

Zwei Politikfelder stechen heraus: die Migrationspolitik und die innere Militarisierung. Die extrem aggressiven Taktiken der Einwanderungsbehörde ICE, die seit September zu über tausend Verhaftungen allein in Chicago geführt haben, haben ein Klima der Angst geschaffen. Wenn Demonstranten die Freilassung von Nachbarn fordern, die bei Razzien festgenommen wurden, wird der Protest von einer abstrakten politischen Forderung zu einer konkreten Verteidigung der eigenen Gemeinschaft.

Noch bedrohlicher wirkt der Versuch Trumps, die Nationalgarde und andere Bundestruppen gegen den erklärten Willen der lokalen Regierungen in demokratisch geführten Städten wie Chicago und Portland einzusetzen. Auch wenn Bundesgerichte diese Einsätze vorerst gestoppt haben, wird die bloße Absicht als kriegerischer Akt gegen die Souveränität der Bundesstaaten gewertet. Der Protest richtet sich gegen einen Präsidenten, der, so die Wahrnehmung, bereit ist, das Militär gegen die eigenen Bürger einzusetzen, um politische Gegner in „demokratischen Hochburgen“ einzuschüchtern.

Der Kampf um die Flagge

Die Antwort der Bewegung auf diese Bedrohung ist eine brillante symbolische Offensive. Dem Vorwurf, „Amerika zu hassen“, begegnen die Demonstranten mit einer demonstrativen Umarmung patriotischer Symbole. Überall sind US-Flaggen zu sehen. Teilnehmer, darunter viele Veteranen, betonen, sie seien hier, um „die Stars and Stripes zurückzuerobern“.

Dies ist eine gezielte patriotische Rückaneignung. Die Demonstranten framen ihre Aktionen nicht als anti-amerikanisch, sondern als die ureigenste amerikanische Pflicht: den Widerstand gegen Tyrannei, ganz in der Tradition der Gründerväter von 1776. Sie argumentieren, dass nichts patriotischer sei als friedlicher Dissens gegen eine Regierung, die die Verfassung bricht.

Diese ernste patriotische Haltung wird durch die zweite Ebene des Protests, die „strategische Frivolität“, perfekt ergänzt. Die aufblasbaren Kostüme – Frösche, Hasen, Katzen oder Bananen, die in Portland und New York zu Tausenden zu sehen sind – dienen einem klaren Zweck. Sie widerlegen das von Trump und Fox News gezeichnete Bild der „gefährlichen Anarchisten“ durch puren Spott. Wer als Hase verkleidet tanzt, kann kaum als gewalttätige Bedrohung für die nationale Sicherheit dargestellt werden. Diese Ironie entlarvt die Dämonisierung der Regierung als absurd.

Die Rhetorik der Eskalation

Die republikanische Führung kann und will auf diese subtile symbolische Ebene nicht eingehen. Ihre Strategie ist die frontale Delegitimierung. Wenn fast sieben Millionen Menschen friedlich demonstrieren, die Administration aber als autoritär bezeichnen, stellt dies die Legitimität der Regierung selbst infrage. Die einzige Antwort der GOP darauf ist, die Legitimität der Demonstranten zu bestreiten.

Deshalb die schrille Rhetorik von Sprecher Mike Johnson und anderen. Die Proteste müssen als „Hass auf Amerika“ gebrandmarkt werden. Die Teilnehmer müssen in die Nähe von Terroristen (Hamas) oder staatsfeindlichen Ideologien (Marxismus, Antifa) gerückt werden. Diese Rhetorik zielt nicht auf Überzeugung, sondern auf die Mobilisierung der eigenen Basis und die Einschüchterung moderater Bürger. Es ist der Versuch, eine klare Linie zwischen dem „wahren“, loyalen Amerika (den Trump-Anhängern) und den „inneren Feinden“ (allen anderen) zu ziehen.

Präsident Trump selbst agiert auf einer zynischen Meta-Ebene. Einerseits wischt er die Proteste als irrelevant beiseite und behauptet, „sehr wenige Leute“ würden teilnehmen. Andererseits reagiert er auf den „No Kings“-Vorwurf, indem er auf seinen Social-Media-Kanälen Memes teilt, die ihn triumphierend als König oder als Kampfjet-Pilot zeigen, der Demonstranten beschmutzt. Diese Taktik ist perfide: Er bestätigt den Vorwurf des Monarchisten, signalisiert aber durch die ironische Übernahme des Frames, dass er über der Kritik steht und die Macht hat, sich jeden Spott leisten zu können.

Ein kalkuliertes Spiel mit dem Föderalismus

Der Konflikt beschränkt sich längst nicht mehr auf Rhetorik. Er wird administrativ und juristisch ausgefochten. Während Gerichte die Entsendung von Bundestruppen in Städte wie Portland noch blockieren, zeigt die Reaktion einiger Bundesstaaten auf die Proteste, wie angespannt die Lage ist.

Republikanische Gouverneure wie Greg Abbott in Texas und Glenn Youngkin in Virginia aktivierten präventiv die Nationalgarde, um sich auf mögliche „kriminelle Handlungen“ vorzubereiten. Abbott sprach von einer „Abschreckung“ durch Bodentruppen und „taktische Assets“ aus der Luft. Hier prallen zwei Sicherheitsphilosophien frontal aufeinander: Auf der einen Seite die zivilgesellschaftlichen Organisatoren, die mit Tausenden Freiwilligen auf Deeskalation und Waffenverbot setzen, um eine Wiederholung der Tragödie von Utah zu verhindern. Auf der anderen Seite eine Staatsmacht, die dem friedlichen Protest von vornherein mit einer Logik der Aufstandsbekämpfung begegnet.

Diese Eskalation birgt enorme Risiken für den amerikanischen Föderalismus. Der Konflikt zwischen der Bundesregierung und den demokratisch regierten Städten und Staaten entwickelt sich zu einem fundamentalen Kampf um Zuständigkeiten und die Kontrolle über die Sicherheitsorgane.

Die Demokraten als Zaungäste?

In diesem Ringen versuchen die Republikaner, die Demokratische Partei als Strippenzieher zu isolieren. Der Vorwurf, die Demokraten würden den Government Shutdown gezielt verlängern, um den Protesten nicht in den Rücken zu fallen, ist ein strategischer Versuch, die „No Kings“-Bewegung als rein parteipolitisch zu diskreditieren.

Tatsächlich befinden sich die Demokraten in einem Dilemma. Führende Politiker wie Bernie Sanders, Chris Murphy oder Alexandria Ocasio-Cortez treten bei den Kundgebungen auf und nutzen die Bühne, um ihre eigenen politischen Ziele – wie das Ende des Shutdowns oder den Schutz der Gesundheitsversorgung – zu bewerben. Sie versuchen, die immense Energie der Straße politisch zu „nutzen“, wie es der DNC-Vorsitzende Ken Martin ausdrückte.

Doch sie führen diese Bewegung nicht. Die treibenden Kräfte sind unabhängige Organisationen wie Indivisible. Dies ist Segen und Fluch zugleich. Es verleiht den Protesten eine authentische Graswurzel-Legitimität, die weit über das traditionelle demokratische Lager hinausgeht. Gleichzeitig fehlt die direkte parlamentarische Durchschlagskraft, um die Forderungen der Straße unmittelbar in Gesetze oder ein Ende der Blockadepolitik in Washington umzusetzen.

Was bleibt vom Ruf nach „Keinen Königen“?

Am Ende stellt sich die Frage nach der politischen Wirksamkeit. Was haben sieben Millionen Menschen an einem Samstag erreicht? Kurzfristig: nichts. Der Shutdown dauert an, die ICE-Razzien gehen weiter, und der Präsident sitzt fester im Sattel denn je.

Doch die Organisatoren sehen den Tag als vollen Erfolg. Sie argumentieren, dass gerade die aggressive Dämonisierung durch die Republikaner die Mobilisierung befeuert habe. Die Anmeldezahlen seien nach den „Hate America“-Attacken explodiert. Die Kampagne der Angst hat eine Trotzreaktion und eine Welle der Solidarität ausgelöst. Der Protest hat zudem eine globale Dimension erreicht. Kundgebungen vor US-Botschaften in London, Berlin, Madrid und Dublin signalisieren, dass die Welt den Kampf um die amerikanische Demokratie mit Sorge beobachtet.

Innenpolitisch war der 18. Oktober 2025 eine patriotische Heerschau der Zivilgesellschaft. Die Proteste haben der schweigenden Mehrheit der Trump-Gegner eine Stimme und ein Gesicht gegeben. Sie haben ein mächtiges Signal an die noch funktionierenden Institutionen, insbesondere die Gerichte, gesendet, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht bereit ist, die Erosion der Republik widerstandslos hinzunehmen.

Die „No Kings“-Bewegung hat an diesem Tag zwar keine Gesetze geändert, aber sie hat die Realität einer tief gespaltenen Nation unübersehbar gemacht. Der König in Washington mag die politische Macht kontrollieren, aber der patriotische Aufstand hat bewiesen, dass der Kampf um die amerikanische Verfassung gerade erst begonnen hat.

Nach oben scrollen