
Was sich derzeit in den Korridoren der Macht in Washington vollzieht, ist weit mehr als nur die erzwungene Veräußerung einer populären App. Die bevorstehende Übernahme der amerikanischen TikTok-Sparte durch ein Konsortium, das von loyalen Gefolgsleuten des Präsidenten Donald Trump angeführt wird, markiert einen Wendepunkt im Verständnis von Macht, Medien und Manipulation im 21. Jahrhundert. Was unter dem Vorwand nationaler Sicherheitsinteressen begann, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ein sorgfältig orchestrierter Coup, der die Grenzen zwischen Staat, Wirtschaft und Propaganda auflöst. Es ist die kaum verhüllte Inszenierung eines beispiellosen Aktes politischer Patronage, der die Kontrolle über das wohl wirkungsvollste psychologische Instrument unserer Zeit in die Hände einer kleinen, ideologisch eingeschworenen Elite legt. Die wahre Gefahr geht längst nicht mehr von einem potenziellen Datenabfluss nach Peking aus; das trojanische Pferd steht bereits im Herzen der amerikanischen Demokratie, und seine neuen Herren bereiten sich darauf vor, die Tore von innen zu öffnen.
Die digitale Droge und ihre Dealer
Um die politische Brisanz dieses Vorgangs in Gänze zu erfassen, muss man zunächst die Wirkungsweise von TikTok verstehen. Die Plattform ist keine neutrale Bühne für kreative Selbstdarstellung; sie ist eine hochgradig optimierte Maschine zur Formung von Gewohnheiten und zur Maximierung von Verweildauer. Ihr Herzstück, der berüchtigte Algorithmus, operiert mit einer psychologischen Präzision, die ihresgleichen sucht. Detaillierte Datenanalysen des Nutzerverhaltens zeichnen ein beunruhigendes Bild: Selbst Gelegenheitsnutzer, die anfangs kaum eine halbe Stunde täglich auf der App verbringen, verdoppeln ihre Bildschirmzeit binnen weniger Monate auf über 70 Minuten. Bei sogenannten „Power-Usern“ sind es täglich vier Stunden und mehr.

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Diese Eskalation ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines ausgeklügelten Designs. Der endlose Strom hyperpersonalisierter Kurzvideos aktiviert das Belohnungssystem des Gehirns auf eine Weise, die mit der Reaktion auf materielle Güter oder gar Drogen vergleichbar ist. Jeder Wisch nach oben birgt das Versprechen einer neuen, noch fesselnderen Stimulation. Dieser Mechanismus führt zu einer nachweisbaren Abnahme der Selbstkontrolle und fördert Verhaltensweisen, die Züge einer Zwangsstörung tragen: das unstillbare Verlangen, die App immer häufiger zu öffnen, das beschleunigte, beinahe automatisierte Wegwischen uninteressanter Inhalte und die Unfähigkeit, das Scrollen zu beenden, selbst wenn man es bewusst vorhat. Technische Hilfsmittel wie Bildschirmzeit-Limits oder die von der App selbst eingespielten Pausen-Erinnerungen erweisen sich als weitgehend wirkungslos; die Nutzer haben gelernt, sie instinktiv zu ignorieren.
Die gesellschaftlichen Folgen sind gravierend. Experten warnen vor einer Zunahme des Phänomens „Phubbing“ – dem Ignorieren des realen sozialen Umfelds zugunsten des Smartphones – und einer damit einhergehenden Erosion zwischenmenschlicher Beziehungen. Die ständige Berieselung mit fremden Inhalten erschwert die Entwicklung eigener Gedanken und Meinungen. Die Kontrolle über diesen Algorithmus bedeutet also nicht nur die Kontrolle über einen Werbemarkt; es ist die Kontrolle über die Aufmerksamkeit und, in letzter Konsequenz, über das Denken von Hunderten Millionen Menschen.
Ein Präsident als Pate des Deals
Vor diesem Hintergrund erscheint die politische Volte, die Donald Trump in der Causa TikTok vollzogen hat, in einem gänzlich neuen Licht. Während seiner ersten Amtszeit gebärdete er sich noch als erbitterter Gegner der Plattform. Vordergründig trieb ihn die Sorge vor chinesischer Spionage, doch hinter den Kulissen war es wohl eher die persönliche Kränkung über einen von TikTok-Nutzern organisierten Streich, der eine seiner Wahlkampfveranstaltungen vor leeren Rängen stattfinden ließ. Sein Nachfolger Joe Biden setzte den Verbotskurs fort, begründete ihn ebenfalls mit nationalen Sicherheitsinteressen, blieb die konkreten Beweise dafür jedoch bis heute schuldig.
Mit seiner Rückkehr ins Weiße Haus hat sich Trumps Haltung radikal gewandelt. Die einstige Bedrohung ist plötzlich zu einem strategischen Asset geworden. Er hat erkannt, dass die Plattform ihn bei jungen Wählern populär gemacht hat, und statt eines Verbots forciert er nun einen Verkauf – allerdings nicht an den Meistbietenden, sondern an ein handverlesenes Kollektiv von Freunden und Unterstützern. Der Präsident agiert hier weniger als Hüter staatlicher Interessen, sondern vielmehr als Pate eines Deals, der seinen loyalsten Verbündeten immense Macht und Reichtum zuschanzt. Die Rhetorik der nationalen Sicherheit ist zur bloßen Fassade für einen Akt des reinsten Klientelismus verkommen.
Loyalität als Währung im Machtpoker
Die ökonomischen Rahmenbedingungen des Deals untermauern diesen Verdacht. Während vergleichbare Plattformen wie YouTube oder Instagram mit dem Acht- bis Zehnfachen ihres Jahresumsatzes bewertet werden, soll die hochprofitable US-Sparte von TikTok für einen Preis von lediglich 14 Milliarden US-Dollar den Besitzer wechseln – ein Bruchteil ihres geschätzten Marktwerts von mindestens 40 Milliarden Dollar. Dieses Arrangement ist nichts weniger als ein Milliardengeschenk an eine kleine Gruppe von Investoren, für das keine transparente, öffentliche Auktion stattfand.
Die Auswahl der Begünstigten folgt einer klaren politischen Logik. An der Spitze steht der Oracle-Gründer Larry Ellison, ein langjähriger und finanzstarker Unterstützer Trumps, der in Biografien als rücksichtsloser Geschäftsmann beschrieben wird. An seiner Seite positioniert sich die Murdoch-Familie, deren Medienimperium seit jeher als Sprachrohr konservativer und republikanischer Anliegen dient. Die Hauptqualifikation für die Teilnahme an diesem Geschäft scheint nicht technologische oder mediale Expertise zu sein, sondern unbedingte Loyalität zum Präsidenten. Es entsteht eine gefährliche Symbiose, in der ein unterbewertetes, staatlich zugeschanztes Gut eine unausgesprochene Erwartungshaltung künftiger ideologischer Gegenleistungen schafft. Die mangelnde parlamentarische Aufsicht über diesen Prozess, begünstigt durch interne politische Querelen, lässt der Administration freie Hand, Fakten zu schaffen, die kaum mehr reversibel sein werden.
Algorithmen der Macht: Das Ende der Neutralität
Die entscheidende Frage ist, was die neuen Eigentümer mit ihrer erworbenen Macht anfangen werden. Die Kontrolle über den Algorithmus ist das Kronjuwel dieses Deals. Sie verleiht die Fähigkeit, Narrative zu setzen, Themen zu verstärken oder zu unterdrücken und die öffentliche Debatte subtil, aber wirkungsvoll in eine gewünschte Richtung zu lenken. Die Vorstellung, dass ein von Trump-Loyalisten kontrolliertes TikTok zu einer Art „MAGA-Tok“ umgestaltet werden könnte, ist alles andere als abwegig. Trumps eigener, halb scherzhaft geäußerter Wunsch, die App „100 Prozent MAGA“ zu machen, ist eine kaum verhohlene Andeutung der Stoßrichtung.
Die Werkzeuge hierfür sind vielfältig. Durch minimale Anpassungen an den Empfehlungsmechanismen könnten regierungskritische Inhalte systematisch an Reichweite verlieren, während regierungsfreundliche Botschaften prominent platziert werden. Content-Ersteller, die sich nicht auf Linie bringen lassen, könnten durch eine Reduzierung ihrer Sichtbarkeit und damit ihrer Einnahmen bestraft werden. Das Vorbild von Elon Musks Übernahme von Twitter, das er zu „X“ umformte und dessen Algorithmus er nachweislich zugunsten rechter Inhalte veränderte, zeigt, wie schnell eine solche Transformation vonstattengehen kann. Der Zielkonflikt zwischen der unternehmerischen Freiheit der neuen Eigentümer und dem Schutz der Meinungsfreiheit ist offensichtlich. In einem Umfeld, in dem bereits andere Tech-Giganten wie Meta oder Apple unter politischem Druck ihre Prinzipien der Content-Moderation aufweichen, droht hier die Schaffung eines weiteren, machtvollen Propaganda-Instruments in einem ohnehin schon polarisierten Medienumfeld.
Ein Feigenblatt namens Datensicherheit
Besonders paradox erscheint, dass der Deal die ursprünglich vorgebrachten Sicherheitsbedenken kaum aus der Welt schafft. Die technische Infrastruktur und die Datenspeicherung sollen zwar weiterhin bei Oracle liegen – der Firma des Hauptinvestors Ellison –, doch Kritiker bemängeln seit Langem die Unzulänglichkeit dieser Lösung. Eine vollständige Trennung der US-Operationen von der globalen, chinesisch kontrollierten Plattform gilt als technologisch kaum verifizierbar.
Mehr noch: Der chinesische Mutterkonzern ByteDance soll auch nach dem Verkauf mit rund 20 Prozent an dem neuen US-Unternehmen beteiligt bleiben und den Kern des Algorithmus weiterhin lizenzieren. Damit behält Peking nicht nur einen Fuß in der Tür, sondern auch einen potenziellen Hebel auf die technologische Weiterentwicklung. Die Trump-Administration scheint bereit, im Rahmen des andauernden Handelskrieges mit China Kompromisse einzugehen, die den ursprünglichen Sicherheitszielen diametral entgegenstehen. Der Schutz amerikanischer Nutzerdaten, einst das zentrale Argument für das harte Vorgehen, verkommt so zu einem rhetorischen Feigenblatt, das die wahren, innenpolitischen Machtinteressen nur notdürftig verdeckt.
Die aktuelle Debatte, die sich auf die Akteure und die geopolitischen Verwerfungen konzentriert, läuft Gefahr, das Wesentliche zu übersehen – eine Kritik, die auch an der bisherigen publizistischen Aufarbeitung des Phänomens geübt wurde. Die von TikTok ausgelöste kulturelle Revolution, die das Kurzvideoformat zum dominanten Kommunikationsmittel einer ganzen Generation gemacht hat, ist bereits eine vollendete Tatsache. Nun geht es um die Frage, wer die Regeln in dieser neuen, algorithmisch kuratierten Realität bestimmt.
Wenn der Deal wie geplant über die Bühne geht, erleben wir die Geburt eines hybriden Machtinstruments, das die fesselnde Psychologie einer Unterhaltungs-App mit der knallharten Agenda politischer Strategen vereint. Das wahrscheinlichste Szenario ist eine schleichende, aber stetige Verschiebung des Sagbaren und Sichtbaren, eine Normalisierung von Propaganda, die so perfekt auf den Einzelnen zugeschnitten ist, dass sie nicht mehr als solche wahrgenommen wird. Es wäre die Vollendung eines Modells, in dem Technologie nicht mehr der Vernetzung von Menschen dient, sondern ihrer ideologischen Ausrichtung. Die entscheidende Frage für die Zukunft der amerikanischen und westlichen Demokratien lautet daher nicht mehr, ob wir China fürchten müssen, sondern ob wir uns selbst noch trauen können.