
Es gibt Momente, in denen die tektonischen Platten der politischen Landschaft sich so langsam verschieben, dass man das Beben erst spürt, wenn die ersten Risse im Fundament der Gewissheiten sichtbar werden. Wir erleben gerade einen solchen Moment. Sein Epizentrum liegt nicht in den üblichen Machtzentren Washingtons, sondern im Herzen des Silicon Valley, und sein prominentester Prophet ist ein Mann, den man lange für den Hohepriester der kühlen, kalkulierenden Rationalität hielt: Peter Thiel.
Der Mitgründer von PayPal, frühe Facebook-Investor und Pate einer ganzen Generation von Tech-Unternehmern war stets eine Figur des Establishments, auch wenn er sich als dessen Kritiker inszenierte. Seine Analysen waren scharf, seine Thesen provokant, doch sie bewegten sich auf dem Spielfeld der Logik. Heute jedoch spricht Thiel eine andere Sprache. Es ist eine Sprache, die von Dämonen und dem Antichristen handelt, von einer bevorstehenden Apokalypse und finsteren Mächten, die die Menschheit unterjochen wollen. Es ist, als hätte ein Meister des Schachspiels plötzlich das Brett umgeworfen, um stattdessen über Geister zu sprechen.
Dieser Wandel ist mehr als nur die exzentrische Marotte eines Milliardärs. Er ist das Symptom einer tiefgreifenden ideologischen Gärung an der Spitze der amerikanischen Machtelite – einer giftigen Melange aus technologischem Allmachtsdenken, apokalyptischem Christentum und einem paranoiden Verschwörungsglauben, die unter der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump zu einer politisch wirkmächtigen Kraft zu werden droht. Was wir bei Thiel beobachten, ist nicht weniger als die Geburt einer neuen politischen Religion, deren erster und wichtigster Glaubenssatz lautet: Der Fortschritt ist heilig, und wer ihn aufhalten will, dient dem Bösen.

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Die Welt als Manuskript einer Verschwörung
Um die neue Gedankenwelt Peter Thiels zu verstehen, muss man sich von der Vorstellung verabschieden, es ginge hier um klassische politische Meinungsverschiedenheiten. Thiels Analyse der Gegenwart hat den Boden der rationalen Debatte verlassen und betritt das Reich der Gnostik, einer Lehre von verborgenem, nur Eingeweihten zugänglichem Wissen. In seinen jüngsten Schriften fordert er nach Trumps Rückkehr ins Weiße Haus eine großangelegte „Apokálypsis“ – eine Offenbarung im biblischen Wortsinn. Endlich, so die Verheißung, könnte die Wahrheit über die Ermordung John F. Kennedys, den Ursprung des Coronavirus oder den Tod des Sexualstraftäters Jeffrey Epstein ans Licht kommen.
Für Thiel sind diese ungelösten Rätsel keine bedauerlichen Lücken in der Geschichtsschreibung, sondern Beweise für die Existenz einer allmächtigen, bösartigen Kontrollinstanz. Er nennt sie, in Anlehnung an einen Freund, den „Distributed Idea Suppression Complex“ (DISC) – ein Netzwerk aus etablierten Medien, Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Institutionen, das angeblich systematisch unbequeme Wahrheiten unterdrückt.
Diese Weltsicht, in der jedes Ereignis ein potenzieller Hinweis auf eine dahinterliegende, finstere Absicht ist, ist der Nährboden für jede Form von Konspirationismus. Sie zersetzt das Vertrauen in Fakten und Institutionen und ersetzt es durch ein Gefühl der permanenten Bedrohung durch unsichtbare Hände. Das Tragische ist, dass Thiels Argumente, wie so oft bei Verschwörungserzählungen, an Körnchen Wahrheit andocken. Ja, die etablierten Medien haben die Frage nach einem Laborursprung von COVID-19 anfangs vorschnell als Rassismus abgetan. Ja, die Umstände von Epsteins Tod werfen berechtigte Fragen auf.
Doch Thiel und seine Mitstreiter nutzen diese Unsicherheiten nicht als Anlass für demütige Skepsis, sondern als Sprungbrett in die absolute, paranoide Gewissheit. Aus der berechtigten Frage nach dem Ursprung eines Virus wird die Behauptung, es sei eine Biowaffe gewesen. Aus dem Zweifel an einem offiziellen Bericht wird der Glaube an eine allumfassende Vertuschung. Die korrekte Antwort auf Ungewissheit wäre intellektuelle Bescheidenheit. Die Reaktion der neuen Rechten ist die Verschwörung.
Gott, Geld und künstliche Intelligenz: Der neue Glaube der Tech-Elite
Was in Thiels öffentlichen Texten noch als politisch-intellektuelle Provokation daherkommt, entfaltet in seinen privaten, als „off-the-record“ deklarierten Vorträgen seine volle, radikale Wucht. In diesen stundenlangen Monologen, gehalten vor einem handverlesenen Publikum im Rahmen christlicher Tech-Zirkel, vollzieht Thiel den entscheidenden Schritt: Er überführt seinen politischen Kampf in eine theologische Endzeiterzählung.
Hier wird der Widerstand gegen staatliche Regulierung von Technologie und Finanzmärkten zu einem heiligen Krieg. In diesem Glaubenssystem sind es nicht mehr nur Bürokraten oder linke Journalisten, die den Fortschritt behindern. Es ist der Antichrist selbst, der durch sie wirkt. Umweltaktivistinnen wie Greta Thunberg oder kritische KI-Forscher wie Eliezer Yudkowsky werden nicht mehr als politische Gegner gesehen, sondern zu Agenten einer finsteren Macht stilisiert, zu „Legionären des Antichristen“, deren wahres Ziel die Errichtung einer globalen totalitären Herrschaft sei.
Diese Dämonisierung jeder Form von Kritik und Kontrolle dient einem klaren strategischen Zweck: Sie immunisiert die eigene Position gegen jede rationale Argumentation. Wer für Sicherheitsstandards bei künstlicher Intelligenz plädiert, will in dieser Logik nicht etwa Risiken minimieren, sondern der Menschheit ihre gottgegebene technologische Erlösung rauben. Wer internationale Finanztransparenz fordert, schafft nicht etwa Regeln gegen Geldwäsche, sondern baut die Infrastruktur für die diktatorische Weltregierung des Antichristen. Thiel selbst sagt, dass rationale Argumente gegen einen solchen „Weltstaat“ niemals ausreichen würden, um den nötigen Widerstand zu entfachen – es brauche den biblischen Kontext, um die Bedrohung wirklich „furchteinflößend“ zu machen.
Diese Entwicklung ist Teil eines breiteren Trends. In den Nischen des Silicon Valley, das lange als Hort des säkularen Libertarismus galt, entsteht eine neue Bewegung, die christlichen Glauben und Technologie-Optimismus zu einer schlagkräftigen Ideologie verbindet. Organisationen wie die „ACTS 17 Collective“, die auch Thiels Vorträge veranstaltete, sehen ihre Mission darin, die Eliten der Tech-Welt für Christus zu gewinnen. Es ist eine Theologie für die Mächtigen, die ihnen nicht nur Vergebung, sondern auch eine göttliche Legitimation für ihr Streben nach unbegrenztem Reichtum und unkontrollierter technologischer Macht anbietet.
Vom Zynismus zur Apokalypse: Eine ansteckende Krankheit
Lange konnte man das Anbiedern rechter Influencer an Verschwörungsmythen als zynisches Spiel abtun. Die während des Dominion-Rechtsstreits aufgetauchten Textnachrichten von Fox-News-Moderatoren zeigten, dass viele von ihnen selbst nicht an den Wahlbetrug glaubten, den sie Abend für Abend predigten. Sie gaben den Leuten, was sie hören wollten. Doch etwas hat sich verändert. Der Zynismus scheint einer echten, tiefen Überzeugung gewichen zu sein.
Man beobachtet es bei Figuren wie Tucker Carlson, der seit seinem Rauswurf bei Fox News immer bizarrere Thesen vertritt. Was als Spiel mit den Klicks begann, mündete in Erzählungen von nächtlichen Angriffen durch Dämonen und der Behauptung, die Atombombe sei eine Erfindung des Teufels. Ähnlich wirkt es bei Thiel. Seine jüngsten Texte lesen sich nicht mehr wie die kalkulierten Provokationen eines brillanten Investors, sondern wie die fiebrigen Eingebungen eines Mannes, der tatsächlich glaubt, von finsteren Mächten verfolgt zu werden.
Es scheint, als hätte das permanente Bad in den Echokammern des Internets, in denen jede noch so abseitige Theorie durch ständige Wiederholung zur Wahrheit wird, das intellektuelle Immunsystem selbst der klügsten Köpfe zersetzt. Der menschliche Geist, so zeigt sich, hat eine fatale Schwäche für gute Geschichten, besonders wenn sie einfache Antworten auf komplexe Fragen bieten und ein klares Feindbild liefern. Wenn man den ganzen Tag nur Menschen zuhört, die hinter jedem Zufall eine bösartige Absicht wittern, beginnt man irgendwann, selbst daran zu glauben. Die Paranoia ist ansteckend, und sie hat die Schaltzentralen der amerikanischen Macht erreicht.
Wenn der Rubel rollt und der Dämon spricht: Die politische Gefahr
Was bedeutet diese Entwicklung konkret? Sie bedeutet, dass der politische Diskurs zunehmend vergiftet wird durch eine Denkweise, die keine Kompromisse, nur noch Gut und Böse kennt. Der notwendige gesellschaftliche Streit über die richtige Balance zwischen Innovationsfreiheit und Gemeinwohl – etwa bei der Regulierung von KI – wird unmöglich, wenn eine Seite ihn als metaphysischen Kampf gegen das Böse inszeniert.
Die Konsequenzen einer Politik, die auf dieser Ideologie fußt, wären verheerend. Eine radikale Deregulierung von Technologie und Kapital, wie sie Thiel vorschwebt, würde nicht nur bestehende soziale Ungleichheiten zementieren, sondern die Gesellschaft auch unvorhersehbaren technologischen und ökonomischen Risiken aussetzen. Wenn die einzigen Bremsen, die man dem technologischen Fortschritt zugesteht, von Gott oder dem Teufel stammen, ist der menschliche Gesetzgeber faktisch entmachtet.
Unter der Präsidentschaft von Donald Trump, mit Thiels Protegé J.D. Vance als Vizepräsident, erhält diese Ideologie einen direkten Zugang zur Macht. Thiels Forderung nach einer „Apokálypsis“ der Staatsgeheimnisse könnte zur politischen Waffe werden, um Geheimdienste und Justiz zu diskreditieren. Sein Kreuzzug gegen Regulierung könnte die Bemühungen um eine ethische Einhegung von KI auf Jahre zurückwerfen.
Die größte Gefahr liegt jedoch tiefer. Wenn die einflussreichsten Köpfe und die größten Vermögen des Landes sich einer Weltsicht verschreiben, die auf Paranoia und Mystizismus statt auf Fakten und Vernunft basiert, erodiert das Fundament der Aufklärung, auf dem die westlichen Demokratien gebaut sind. Die „Offenbarung“, die Peter Thiel herbeisehnt, könnte am Ende die Enthüllung einer Zukunft sein, in der die Dämonen, die er überall zu sehen glaubt, tatsächlich die Macht übernommen haben – weil wir aufgehört haben, an die Kraft der Vernunft zu glauben.