
Es gibt einen neuen Spottnamen für Bologna, jene ehrwürdige italienische Stadt, die sich einst ihrer Beinamen „die Gelehrte“, „die Rote“ und vor allem „die Fette“ rühmte. Heute nennen sie manche nur noch die „Stadt der Schneidebretter“. Ein Name, der nach billigem Holz und Touristenmassen riecht, nicht nach jahrhundertealter Kultur. Er beschreibt eine Realität, in der historische Gassen von den Hochtischen improvisierter Imbissbuden verstopft werden, die Aufschnittplatten an Heerscharen von Besuchern verkaufen. Was in Bologna geschieht, ist kein lokales Ärgernis. Es ist das Epizentrum eines globalen Bebens, eines Phänomens, das leise, aber unerbittlich das Gesicht unserer Städte umpflügt: die „Foodification“.
Dieser Neologismus, eine unheilvolle Kreuzung aus „Food“ und „Gentrification“, beschreibt weit mehr als nur die wachsende Zahl an Restaurants. Er bezeichnet einen tiefgreifenden, oft brutalen Transformationsprozess. Es ist die Geschichte davon, wie das Essen, einst Ausdruck lokaler Identität und Gemeinschaft, zu einer Waffe der Stadtentwicklung und zu einem Katalysator für Verdrängung wird. Angetrieben von einer globalisierten Sehnsucht nach „authentischen“ kulinarischen Erlebnissen, frisst der Markt ebenjene Kultur auf, die er vermarktet. Zurück bleiben austauschbare Konsumkulissen und das leise Echo dessen, was ein Viertel einmal war. Dies ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines perfekten Sturms aus ökonomischen Interessen, politischer Kurzsichtigkeit und unserem eigenen, unstillbaren Appetit auf das nächste perfekte Food-Foto.

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Die Anatomie eines neuen Hungers: Wie das Essen zur Waffe der Stadtentwicklung wurde
Der Aufstieg der Foodification ist kein Zufallsprodukt, sondern das Resultat eines fundamentalen Wandels in der Art, wie wir reisen und konsumieren. Die Suche nach „kulinarischen Erlebnissen“ ist für eine wachsende Zahl von Menschen zum Hauptmotiv für eine Reise geworden. Dieser Trend hat sich zu einem ökonomischen Schwergewicht entwickelt, einem Moloch mit Milliarden-Appetit. Allein in Italien spülte der „turismo enogastronomico“ – der Wein- und Gastronomietourismus – in den ersten Monaten des Jahres 2025 neun Milliarden Euro in die Kassen. Zahlen wie diese erzeugen einen gewaltigen Sog, dem sich Stadtverwaltungen nur schwer entziehen können.
Für viele Politiker erscheint die gezielte Förderung der Gastronomie als eleganter Hebel zur sogenannten Aufwertung vernachlässigter Stadtviertel. Das Kalkül klingt verlockend: Man lässt öffentliche Räume zunächst verwahrlosen, um sie dann privaten Investoren zu übergeben. Diese errichten glitzernde Food-Courts wie den „Mercato Centrale“ in Turin, wo einst ein von Einwanderern geprägtes Viertel pulsierte. Die Stadt flankiert solche Projekte mit dem Bau von Parkplätzen für Touristenbusse und der Schließung sozialer Einrichtungen, die das neue, kaufkräftige Publikum stören könnten.
Doch diese Aufwertung hat einen bitteren Beigeschmack. Sie ist der Brandbeschleuniger für eine sozioökonomische Verdrängung, die das soziale Gefüge unwiderruflich zerstört. Wo einst Handwerksbetriebe, kleine Lebensmittelläden und bezahlbare Nachbarschaftslokale das Bild prägten, schießen nun Craftbeer-Pubs, Vinotheken mit biodynamischen Weinen und Coffeeshops mit Baristas in Lederschürzen aus dem Boden. Es ist ein Angebot, das sich fast ausschließlich an Touristen und eine neue, wohlhabende Klientel richtet. Für die Alteingesessenen ist in dieser neuen Welt kein Platz mehr; die explodierenden Mieten und Immobilienpreise zwingen sie zum Wegzug. Das Phänomen ist eine direkte Folge des „Overtourism“, jener zerstörerischen Welle des Massentourismus, die inzwischen selbst den vermeintlich sanften Qualitätstourismus erfasst und pervertiert hat.
Europa und Mexiko: Gleiches Menü, andere Zutaten?
Obwohl das Ergebnis – die Verdrängung und Homogenisierung – weltweit ähnlich ist, unterscheiden sich die treibenden Kräfte und die gesellschaftliche Brisanz des Phänomens erheblich. In Europa ist die Foodification primär eine Tochter des klassischen Massentourismus. In Lyon, das sich als kulinarische Hauptstadt der Welt inszeniert, ist die Altstadt inzwischen von ihren ursprünglichen Bewohnern befreit und mit einer erdrückenden Dichte an „authentischen“ Bistros, sogenannten Bouchons, überzogen. Dass dort Gerichte wie Käsefondue auf der Karte stehen, die mit der lokalen Tradition nichts zu tun haben, scheint niemanden zu stören. In Barcelona musste der Zugang zur berühmten Markthalle La Boqueria für Reisegruppen über 15 Personen gesperrt werden – eine Regel, die findige Veranstalter umgehend unterlaufen, indem sie ihre Gruppen auf 14 Teilnehmer begrenzen. Es ist ein absurdes Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Stadtkultur auf der Strecke bleibt.
Ganz anders stellt sich die Situation in Mexiko-Stadt dar. Hier ist der Wandel weniger das Resultat flüchtiger Touristenströme als vielmehr einer Welle von Zuzüglern aus dem Ausland, vor allem aus den USA. Angezogen von niedrigeren Lebenshaltungskosten und einem günstigen Wechselkurs, haben sich seit der Pandemie Zehntausende digitale Nomaden und „Remote Worker“ in zentralen Vierteln wie Condesa und Roma Norte niedergelassen. Sie kamen, um zu bleiben, und mit ihnen kam eine tiefgreifende Transformation der Esskultur. Ganze Teile der kulinarischen Szene, einst ein Punkt immensen Nationalstolzes, werden nun nach amerikanischem Vorbild umgestaltet.
Pizzerien im Brooklyn-Stil, hippe jüdische Delis und Coffeeshops mit überteuerten Croissants sprießen aus dem Boden. Selbst traditionelle Saftstände bieten plötzlich Mandelmilch und Proteinpulver an. Die Salsas in den Taquerías werden milder, um den Gaumen der neuen Kundschaft nicht zu überfordern. Was hier geschieht, ist mehr als nur eine Anpassung des Angebots. Es ist eine schleichende Überformung, eine kulturelle Angleichung, die viele Einheimische als zutiefst bedrohlich empfinden.
„Gringo Go Home“: Warum in Mexiko-Stadt der Protest schärfer schmeckt
Der Widerstand gegen die Foodification fällt in Mexiko-Stadt ungleich schärfer und politischer aus als in Europa. Der Grund dafür liegt in einer tiefen historischen Wunde: dem angespannten und von Asymmetrie geprägten Verhältnis zum übermächtigen Nachbarn im Norden. Nach 300 Jahren spanischer Kolonialisierung und dem Verlust riesiger Gebiete an die USA ist das Misstrauen gegenüber ausländischer Dominanz tief in der nationalen DNA verankert. Die aggressive Rhetorik von US-Präsident Donald Trump, der während seiner ersten Amtszeit mexikanische Einwanderer als Mörder und Vergewaltiger diffamierte und das Land kürzlich als einen der „schlimmsten Orte der Welt“ bezeichnete, hat diese Spannungen weiter angeheizt.
Vor diesem Hintergrund wirkt der Einzug amerikanischer Lebensart und Esskultur auf viele Mexikaner nicht wie eine harmlose Globalisierungserscheinung, sondern wie eine neue Form der Kolonialisierung, eine weitere ausländische Besatzung. Parolen wie „Fuera gringos“ (Gringos raus) werden an Hauswände gesprüht. Es kommt zu Protestmärschen, bei denen die „Gringos“ für explodierende Mieten und die Zerstörung des sozialen Gleichgewichts verantwortlich gemacht werden. Die Wut ist spürbar, und sie wird zynischerweise von der Politik noch befeuert: Ausgerechnet die ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, heute Präsidentin des Landes, schloss 2022 eine Partnerschaft mit Airbnb, um gezielt noch mehr digitale Nomaden aus aller Welt anzulocken. Ein Pakt mit dem Teufel, der kurzfristige wirtschaftliche Gewinne über die langfristige soziale Stabilität stellt.
Zwischen Protest und Profit: Die Stimmen aus der kulinarischen Kampfzone
Die Frontlinien in diesem Kulturkampf sind jedoch unübersichtlich. Es gibt nicht nur Täter und Opfer, sondern eine komplexe Gemengelage aus Interessen, Dilemmata und unerwarteten Allianzen. In Italien gründeten Intellektuelle ein Kollektiv und veröffentlichten ein kritisches Buch mit dem Titel „Wie das Essen die Städte aufgefressen hat“. In Mexiko-Stadt organisieren engagierte Restaurantbesitzer einen „Zahl-was-du-kannst-Tag“, um die Viertel symbolisch für die lokale Bevölkerung zurückzuerobern – Menschen reisen dafür aus den Vorstädten an und bezahlen ihre Mahlzeit mit einer Skizze.
Gleichzeitig stehen viele Gastronomen zwischen den Stühlen. Selbst mexikanische Köche, die mit traditionellen Zutaten arbeiten, sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, nur noch für die zahlungskräftige ausländische Kundschaft zu kochen. Der Chef des Restaurants Maizajo, das hochwertige Tacos aus alten Maissorten herstellt, kauft sein Getreide direkt bei den Straßenhändlern vor seiner Tür. Dennoch, so sagt er, „hasst mich die Hälfte meiner Nachbarn“ wegen der hohen Preise und der langen Schlangen von Touristen. Auch ausländische Unternehmer, wie der dänische Bäcker, der in Roma Norte eine Bäckerei eröffnet hat, versuchen, durch die Verwendung lokaler Produkte, die Spende von Resten und das Erlernen der Sprache zu „achtsamen Ausländern“ zu werden. Doch die Kritik, Teil der Gentrifizierung zu sein, bleibt.
Und dann gibt es jene, die sich anpassen oder profitieren. „Ein Verkauf ist ein Verkauf“, sagt eine Angestellte einer alteingesessenen Taquería in Condesa achselzuckend. Sie habe ihre Rezepte nicht geändert, bediene aber nun eine neue Kundschaft. Und die Anwohner rund um die einzige Taquería mit einem Michelin-Stern, zunächst verärgert über die endlosen Warteschlangen, erkannten bald eine Geschäftsmöglichkeit: Sie begannen, Merchandise für das Restaurant zu produzieren und an die wartenden Touristen zu verkaufen. Es ist ein pragmatischer Umgang mit einer unaufhaltsamen Entwicklung, ein Versuch, ein kleines Stück vom großen Kuchen abzubekommen, der auf dem eigenen Erbe gebacken wird.
Die globalisierte Speisekarte: Ein Nachruf auf den Eigensinn der Städte?
Was am Ende bleibt, ist ein beunruhigendes Paradox. Der globale Jetset und der Rucksacktourist, der digitale Nomade und der Wochenendbesucher – sie alle reisen um die Welt auf der Suche nach dem Einzigartigen, dem Authentischen, dem Echten. Doch ihre schiere Masse und ihre geballte Kaufkraft bewirken das genaue Gegenteil. Sie erschaffen eine globale Monokultur des Besonderen, eine standardisierte Form der Authentizität, die sich von New York bis Mexiko-Stadt, von Bologna bis Tokio kaum noch unterscheidet. „Irgendwann spielt es keine Rolle mehr, ob man in New York oder in Mexiko-Stadt ist“, klagt eine lokale Unternehmerin.
Die Foodification entkernt die Seele der Orte und ersetzt sie durch eine fotogene, aber leblose Hülle. Traditionelle Gerichte wie die Tortellini werden zu Fast Food degradiert und in Spitztüten serviert, als wären es Chicken Nuggets. Die lebendige Vielfalt des römisch-jüdischen Gettos weicht einem Einheitsbrei aus Pizza, Burgern und Sushi unter dem Label „koscher“. Wenn diese Entwicklung ungebremst fortschreitet, droht uns nicht weniger als der Verlust des kulinarischen Gedächtnisses unserer Städte. Was ist der wahre Preis für einen Teller Pasta, wenn er mit dem Verlust von Nachbarschaft und Identität bezahlt wird? Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir unseren Appetit zügeln – bevor es nichts mehr zu entdecken gibt, weil alles gleich schmeckt.