Die programmierte Spaltung

Illustration: KI-generiert

KI-Agenten versprechen eine Revolution der Produktivität. Doch hinter der Fassade des Fortschritts verbirgt sich ein Gesellschaftsmodell, das auf eine radikale Ungleichheit zusteuert. Die Politik schaut zu, während Konzerne die Regeln für die Arbeit der Zukunft schreiben – und die Kosten der Allgemeinheit aufbürden.

Ein Gespenst geht um in der globalisierten Arbeitswelt, doch es ist kein leibhaftiges, sondern ein digitales. Es manifestiert sich in den menschenleeren Hallen von Amazon-Logistikzentren in Louisiana, wo froschgrüne Roboter mit leuchtenden LED-Augen Pakete sortieren, gesteuert von einer unsichtbaren Intelligenz. Es materialisiert sich in den Codezeilen, die nicht mehr von Menschenhand, sondern von einem „Co-Piloten“ geschrieben werden, und es flüstert durch die Chatbots, die eigenständig über öffentliche Aufträge in Albanien entscheiden sollen. Dieses Gespenst ist die künstliche Intelligenz in ihrer neuesten, wirkmächtigsten Form: der sogenannte KI-Agent, ein autonom handelndes System, das nicht mehr nur Befehle ausführt, sondern analysiert, plant und eigenständig komplexe Aufgaben löst. Die Propheten aus dem Silicon Valley und die Vorstandsetagen der globalen Konzerne verkünden die Ankunft einer neuen Ära, die wahlweise mit der Erfindung der Dampfmaschine oder der Elektrizität verglichen wird. Sie versprechen das Ende der mühseligen, der gefährlichen, der entwürdigenden Arbeit und malen das Bild einer Zukunft, in der uns Maschinen von der Last der Erwerbsarbeit befreien.

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Doch dieses Narrativ, so verlockend es klingen mag, ist eine gefährliche Simplifizierung. Es verschleiert die brutale Logik eines Umbruchs, der derzeit nicht primär von humanistischen Visionen, sondern von knallharten ökonomischen Interessen angetrieben wird. Die KI-Revolution, wie sie sich aktuell vollzieht, ist keine neutrale technologische Entwicklung, sondern ein zutiefst politischer Prozess, dessen Weichenstellung eine dramatische soziale Verwerfung zur Folge haben könnte. Wir erleben den Beginn einer Neuverteilung von Macht und Wohlstand, bei der die Gewinne privatisiert und die Risiken und sozialen Kosten systematisch auf die Allgemeinheit abgewälzt werden. Während Konzerne bereits heute im großen Stil Personal entlassen und dies mit zukünftigen, noch nicht realisierten Effizienzgewinnen rechtfertigen, versagt die Politik auf ganzer Linie. Sie überlässt die Gestaltung der zukünftigen Arbeitswelt denjenigen, deren primäres Interesse nicht dem gesellschaftlichen Ausgleich, sondern der Maximierung des Shareholder-Values gilt. Die drängendste Frage ist daher nicht, ob KI unsere Jobs übernehmen wird, sondern unter wessen Regeln und zu wessen Gunsten dieser unaufhaltsame Wandel stattfindet.

Das Ende der Vorhersehbarkeit

Um die Dimension der aktuellen Transformation zu begreifen, muss man den fundamentalen Unterschied zu früheren Automatisierungswellen verstehen. Der Webstuhl, das Fließband oder der Personal Computer haben menschliche Arbeit stets ergänzt oder durch neue, anspruchsvollere Tätigkeiten ersetzt. Sie waren Werkzeuge, die die menschliche Produktivität steigerten, aber die kognitive Hoheit – das Planen, das strategische Denken, das kreative Schaffen – blieb unangetastet. KI-Agenten sprengen diesen Rahmen. Sie sind nicht länger nur Werkzeuge, sondern Akteure. Ein Forscherteam der Stanford University demonstrierte dies auf eindrückliche Weise, als es ein Team aus KI-Agenten – bestehend aus einem künstlichen Immunologen, einem Bioinformatik-Bot und einem skeptischen „Kritiker“ – auf die Suche nach neuen Antikörpern gegen Coronaviren ansetzte. In übermenschlicher Geschwindigkeit führten diese Agenten wissenschaftliche Diskurse und entwickelten binnen Tagen vielversprechende Proteine. Hier wurde nicht nur bestehendes Wissen angewandt, hier wurde neues Wissen generiert.

Dieser Paradigmenwechsel hat unmittelbare Konsequenzen für den Arbeitsmarkt. Der Beruf des Programmierers etwa, lange Zeit Inbegriff eines zukunftssicheren, hochqualifizierten Jobs, wird in seinen Grundfesten erschüttert. Plattformen wie GitHub, eine Tochter von Microsoft, berichten, dass bereits fast zwei Drittel aller neuen Computercodes mithilfe von KI entstehen. Die Konsequenz: In den USA verschwand in den letzten zwei Jahren mehr als ein Viertel aller Programmiererstellen. Der „Junior Coder“, die klassische Einstiegsposition, wird obsolet. Übrig bleiben die hoch spezialisierten Software-Architekten, die die komplexen Grundstrukturen entwerfen. Die KI übernimmt die mühsame Detailarbeit. Was auf den ersten Blick wie eine Aufwertung aussieht, ist in Wahrheit die Zerstörung der ersten Sprosse auf der Karriereleiter. Diese Entwicklung ist ein Menetekel für unzählige andere „White-Collar“-Berufe, die bislang als immun gegen die Automatisierung galten. Es geht nicht mehr nur um die Substitution repetitiver, manueller Tätigkeiten, sondern um den Kern kognitiver Wertschöpfung.

Ein Wettlauf ohne Schiedsrichter

Trotz dieser disruptiven Kraft ist die treibende Kraft hinter der massiven Implementierung von KI weniger eine technologische Vision als vielmehr ein unbarmherziger Wettbewerbsdruck. In den Chefetagen von Ford bis JPMorgan Chase scheint ein Wettstreit darüber entbrannt zu sein, wer die radikalsten Kürzungspläne verkündet. Ford-Chef Jim Farley rechnet damit, dass die Hälfte der Schreibtischjobs verschwinden könnte, während die Großbank JPMorgan mit zehn Prozent weniger Personal plant. Das Weltwirtschaftsforum prognostiziert, dass 40 Prozent aller Unternehmen ihre Belegschaft aufgrund von KI reduzieren wollen. Diese Ankündigungen sind nicht nur Planspiele, sie sind zu einem entscheidenden Faktor für die Aktienkurse geworden. Sie signalisieren den Märkten Entschlossenheit zur Effizienzsteigerung und Kostensenkung.

Das Paradoxe daran ist, dass diese Personalentscheidungen auf einer Wette auf die Zukunft basieren. Die angepriesenen, enormen Produktivitätsgewinne sind in den gesamtwirtschaftlichen Statistiken der USA oder Europas bislang kaum nachweisbar. Es findet eine massive Investitionswelle statt – allein in den USA flossen letztes Jahr 110 Milliarden Dollar in den Ausbau der Technologie –, deren Refinanzierung durch die Einsparung von Personalkosten vorweggenommen wird. Die Mitarbeiter werden zur Manövriermasse eines spekulativen Kapitalismus, der die menschliche Arbeitskraft als reinen Kostenfaktor betrachtet, der schnellstmöglich zu minimieren ist. Dieser Wettlauf findet in einem regulatorischen Vakuum statt. Es gibt keinen politischen Schiedsrichter, der soziale Leitplanken einzieht oder sicherstellt, dass die Früchte des technologischen Fortschritts fair verteilt werden. Die Logik des Marktes regiert uneingeschränkt.

Amerikas Sprung, Europas Zögern

Die Geschwindigkeit und Brutalität dieses Wandels zeigen sich am deutlichsten in den Vereinigten Staaten. Ein schwacher Kündigungsschutz und eine unternehmerische Kultur, die auf „quick wins“ – schnelle Erfolge – setzt, machen das Land zum globalen Labor für die KI-gestützte Restrukturierung der Arbeitswelt. Unter der aktuellen Administration von Donald Trump, deren politisches Credo die radikale Deregulierung und die Entfesselung der Marktkräfte ist, dürften sich diese Tendenzen noch dramatisch verschärfen. Staatliche Eingriffe zugunsten des Arbeitnehmerschutzes sind unter diesen Vorzeichen kaum zu erwarten. Amerika macht den Sprung ins kalte Wasser, ohne Rücksicht auf die sozialen Kollateralschäden.

Europa, und insbesondere Deutschland, scheint auf den ersten Blick in einer komfortableren Position. Die kleinteiligere, mittelständisch geprägte Wirtschaftsstruktur, in der von den Beschäftigten mehr „Alltagsintelligenz“ und Flexibilität gefordert wird, ist weniger anfällig für eine vollständige Substitution durch KI-Horden. Die starke Rolle der Gewerkschaften und die gesetzliche Mitbestimmung wirken als Bremse gegen allzu forsche Personalabbaupläne. Doch dieser scheinbare Vorteil könnte sich als trügerische Sicherheit erweisen. Der wirtschaftliche Druck wächst auch hierzulande. Deutsche Unternehmen mögen, wie der Salesforce-Deutschlandchef andeutet, zunächst gründlicher „planen und schauen“, doch das Ziel bleibt dasselbe: Effizienzsteigerung auf dem globalen Markt. Die KI kommt nicht als Jobkiller, sondern als „intelligenter Assistent“ daher, wie das Hamburger Start-up Plancraft vormacht, das Handwerkern den lästigen Papierkram abnimmt. Doch dies ist nur die erste Phase. Sobald sich die Technologie als verlässlich erweist und der Kostendruck steigt, wird auch hier die Frage der Substitution lauter gestellt werden. Europas Zögern ist kein strategischer Vorteil, sondern ein Zeitaufschub, der dringend für eine politische Gestaltung des Wandels genutzt werden müsste.

Die neue soziale Sollbruchstelle

Die vielleicht größte Gefahr dieser Revolution liegt in ihrer sozialen Sprengkraft. Die Visionäre des Silicon Valley mögen von einer Zukunft schwärmen, in der uns ein bedingungsloses Grundeinkommen die Freiheit zur Selbstverwirklichung schenkt. Doch die Realität, die sich abzeichnet, ist weniger utopisch. Wenn Konzernchefs wie Tim Höttges von der Deutschen Telekom seit Jahren für ein Grundeinkommen plädieren, dann ist das keine philanthropische Geste. Es ist der zynische Versuch, die sozialen Folgekosten der eigenen, profitgetriebenen Automatisierungsstrategie zu vergesellschaften. Nach dem Vorbild der staatlich subventionierten Frühverrentungsprogramme der Achtziger- und Neunzigerjahre sollen sich die Konzerne ihrer überflüssig gewordenen Mitarbeiter entledigen können, während der Steuerzahler für deren Alimentierung aufkommt.

Dies schafft eine neue, gefährliche Abhängigkeit und zementiert eine Zweiklassengesellschaft. Auf der einen Seite eine kleine Elite aus hochqualifizierten KI-Architekten, Managern und Kapitaleignern, die die Produktivitätsgewinne abschöpfen. Auf der anderen Seite eine breite Masse von Menschen, deren Arbeitskraft entwertet wurde und die von staatlichen Transfers abhängig sind – eine moderne Form des römischen „Brot und Spiele“, das den sozialen Frieden sichern soll. Die Eliminierung von Einstiegsjobs, wie sie vom Chef des KI-Unternehmens Anthropic prognostiziert wird, entzieht einer ganzen Generation die Möglichkeit zum beruflichen Aufstieg und zur sozialen Mobilität. Es entsteht ein prekäres digitales Proletariat neben einer wachsenden Zahl von Menschen, die aus dem Erwerbsleben dauerhaft ausgeschlossen sind. Dies ist keine Befreiung von der Arbeit, sondern eine Enteignung von Zukunftschancen.

Politik im Zuschauermodus

Angesichts dieser tektonischen Verschiebungen ist die Passivität der Politik erschütternd. Die Debatte wird von den Akteuren dominiert, die vom Status quo profitieren: von Tech-Milliardären, die in Büchern über eine „Superagency“ philosophieren, und von Unternehmenslenkern, die ihre Entlassungspläne als unausweichlichen Fortschritt verkaufen. Es fehlt an einer umfassenden politischen Strategie, die diesen Wandel gestaltet, anstatt ihn nur zu verwalten. Notwendig wären massive Investitionen in Bildungs- und Qualifizierungssysteme, die Menschen auf eine hybride Arbeitswelt vorbereiten, in der Anpassungsfähigkeit und Kreativität entscheidend sind. Es bräuchte einen regulatorischen Rahmen, der den Einsatz von KI an soziale und ethische Bedingungen knüpft. Und es bedürfte vor allem einer ehrlichen Debatte über die Verteilung der durch KI geschaffenen Werte. Mechanismen wie eine Robotersteuer oder eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital müssen aus der Tabuzone geholt und ernsthaft diskutiert werden.

Doch stattdessen verharrt die Politik im Zuschauermodus, beeindruckt von der Rhetorik der technologischen Unausweichlichkeit. Insbesondere eine von Deregulierungsideen getriebene Politik, wie sie derzeit in den USA praktiziert wird, überlässt das Feld vollständig den Konzernen. Dies ist eine Kapitulation des Primats der Politik vor den Interessen des Kapitals. Die Gestaltung unserer gesellschaftlichen Zukunft wird an Algorithmen und deren Eigentümer delegiert.

Jenseits der Hängematte

Die uns aufgezwungene Wahl zwischen „Jobcenter oder Hängematte“ ist eine falsche Alternative. Sie lenkt von der eigentlichen Gefahr ab: der Entstehung einer dauerhaft gespaltenen Gesellschaft, in der Teilhabe und Lebenschancen fundamental ungleich verteilt sind. Die Verheißungen einer schöneren, leichteren Arbeitswelt durch künstliche Intelligenz sind das Feigenblatt für eine radikale Machtverschiebung, die im Gange ist. Wenn wir diesen Prozess nicht aktiv politisch gestalten, wird die Technologie nicht der Gesellschaft dienen, sondern einigen wenigen. Der technologische Fortschritt ist kein Schicksal, dem wir uns ergeben müssen. Seine Richtung, seine Geschwindigkeit und vor allem die Verteilung seiner Früchte sind das Ergebnis politischer Entscheidungen. Es ist höchste Zeit, diese Entscheidungen zu treffen, bevor sie für uns getroffen werden.

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