Der doppelte Notstand: Trumps Feldzug gegen die eigenen Städte

Illustration: KI-generiert

Was sich in den Metropolen Amerikas vollzieht, ist weit mehr als eine Verschärfung der Einwanderungspolitik; es ist die methodische Demontage föderaler Prinzipien und die schleichende Erosion rechtsstaatlicher Normen unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung. In seiner zweiten Amtszeit hat Präsident Donald Trump die amerikanischen Großstädte, insbesondere jene, die sich als „Sanctuary Cities“ dem Schutz von Einwanderern ohne Papiere verschrieben haben, zu innenpolitischen Schlachtfeldern erklärt. Durch den massiven Einsatz von Bundesagenten und die Drohung, sogar das Militär zu mobilisieren, wird eine Strategie der Konfrontation verfolgt, die nicht nur das fragile Vertrauen zwischen Bürgern und Behörden zerstört, sondern auch die Grundfesten der amerikanischen Gewaltenteilung einem Stresstest unterzieht. Die Operationen in Washington D.C. und Chicago sind keine isolierten Maßnahmen, sondern Exempel einer systematischen Machtdemonstration, die darauf abzielt, lokalen Widerstand zu brechen und die Bundesautorität bis in die letzte Gasse durchzusetzen. Dahinter verbirgt sich eine kalkulierte politische Agenda, die den traditionell unparteiischen Charakter von Polizei und Militär bewusst instrumentalisiert und die Frage aufwirft, wo die Grenze zwischen legitimer Strafverfolgung und der Militarisierung des Inneren verläuft.

Die Anatomie einer Übernahme

Die Transformation von Washington D.C., einer Stadt, die sich per Gesetz zur Nichteinmischung in Einwanderungsfragen verpflichtet hat, in ein primäres Jagdrevier der Einwanderungsbehörde ICE, offenbart die perfide Effizienz der neuen Bundesstrategie. Der Mechanismus ist von trügerischer Simplizität: Eine Bagatelle, ein fehlendes Nummernschild, ein nicht vorschriftsmäßig durchgeführter Stopp an einer Kreuzung oder das Fahren eines Kleintransporters durch einen Bundespark, dient als legalistischer Vorwand für das Eingreifen der lokalen Polizei. Doch im Schatten des städtischen Streifenwagens warten bereits die Agenten der Bundesbehörden – Beamte von Homeland Security Investigations (HSI), Customs and Border Protection (CBP) oder der U.S. Park Police. Was als routinemäßige Verkehrskontrolle beginnt, mündet in eine Überprüfung des Einwanderungsstatus.

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Das Ergebnis dieser erzwungenen Symbiose ist eine statistische Explosion. Während ICE in der Hauptstadt in den ersten sieben Monaten des Jahres lediglich 85 Festnahmen verzeichnete, schnellte diese Zahl in der kurzen Periode von Anfang August bis Mitte September auf rund 1.200 hoch. Dieser dramatische Anstieg widerlegt die offizielle Darstellung einer gezielten Jagd auf Schwerverbrecher. Vielmehr deutet alles auf eine breit angelegte Dragnet-Operation hin, die darauf abzielt, möglichst viele Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus aufzugreifen, unabhängig von ihrer individuellen Gefährlichkeit. Videos und Augenzeugenberichte dokumentieren, wie Personen nach einer Kontrolle durch die städtische Polizei direkt in die Hände maskierter Bundesagenten übergeben und in unmarkierten Fahrzeugen abtransportiert werden. Dieser nahtlose Übergang von lokaler zu föderaler Autorität untergräbt nicht nur gezielt die „Sanctuary“-Gesetzgebung der Stadt, sondern schafft auch eine Atmosphäre der permanenten Bedrohung für jeden, der aufgrund seines Aussehens oder seiner Tätigkeit ins Visier geraten könnte.

Die Rhetorik der Vernebelung

Die Diskrepanz zwischen dem, was auf den Straßen geschieht, und dem, was offiziell kommuniziert wird, ist ein zentrales Element dieser Strategie. Die Bürgermeisterin von Washington D.C., Muriel Bowser, liefert hierfür ein Lehrstück in politischer Ambivalenz. Öffentlich versicherte sie nach dem Ende des von Trump ausgerufenen 30-tägigen Kriminalitätsnotstandes, die Kooperation mit den Einwanderungsbehörden sei beendet und gehöre nicht zu den Aufgaben der Metropolitan Police Department (MPD). Wiederholt bestritt sie, dass ihre Beamten gemeinsam mit ICE patrouillieren. Doch die mit Fotos und Videos dokumentierte Realität zeichnet ein anderes Bild. Konfrontiert mit erdrückenden Beweisen, musste die Bürgermeisterin schließlich einräumen, dass Bundesagenten weiterhin Teil einer gemeinsamen Taskforce seien – eine Zusammenarbeit, die sie nach eigener Aussage nie gewollt habe, aber offenbar nicht zu beenden vermag.

Diese widersprüchlichen Aussagen schaffen ein Klima der Verunsicherung und des Misstrauens. Während die Stadtführung versucht, den Anschein der Autonomie und der Einhaltung lokaler Gesetze zu wahren, vollzieht sich auf operativer Ebene eine schleichende Integration der städtischen Polizei in die föderale Abschiebungsmaschinerie. Eine im August von der Polizeichefin erlassene und weiterhin gültige Anordnung erlaubt es Beamten explizit, Informationen über Personen, die sich nicht in Gewahrsam befinden – etwa bei Verkehrskontrollen –, an die Einwanderungsbehörden weiterzugeben. Die Bürgermeisterin mag diese Anordnung als „unerheblich“ abtun, doch für die Beamten vor Ort und die betroffenen Bürger ist sie eine handfeste Realität. Die unklare Befehlslage und die mangelnde Transparenz führen zu einem Zustand, in dem niemand mehr weiß, welche Regeln gelten. Die Polizei, die eigentlich dem Schutz aller Bürger verpflichtet ist, wird zu einem unberechenbaren Akteur im Dienste einer übergeordneten Bundesagenda.

Chicago als Labor der Eskalation

Was in Washington D.C. als erzwungene Kooperation begann, erfährt in Chicago eine militärische Zuspitzung. Unter dem martialischen Namen „Operation Midway Blitz“ demonstriert die Trump-Administration, wie weit sie zu gehen bereit ist, um ihren Willen durchzusetzen. Hier patrouillieren nicht nur Bundesagenten in Tarnkleidung durch die Innenstadt, hier werden nächtliche Razzien mit einem Aufgebot durchgeführt, das an eine Militäroperation erinnert: Dutzende Fahrzeuge, Drohnen und Helikopter kommen zum Einsatz, um ein einzelnes Wohnhaus zu stürmen. Berichte über Scharfschützen, die sich von Dächern abseilen, vervollständigen das Bild einer Stadt im Belagerungszustand.

Die Entsendung von 100 Nationalgardisten nach Illinois, vordergründig zum Schutz von Bundeseinrichtungen, markiert eine weitere Eskalationsstufe. Sie normalisiert die Präsenz von Soldaten im städtischen Raum und verwischt die Grenze zwischen ziviler Strafverfolgung und militärischem Einsatz im Inneren. Präsident Trumps beiläufige Ankündigung, amerikanische Städte wie Chicago als „Trainingsgelände“ für zukünftige Kriege zu nutzen, entlarvt die tiefere Absicht hinter diesen Operationen. Es geht nicht primär um die Abschiebung einzelner Personen, sondern um die Etablierung eines neuen Paradigmas, in dem das Militär als innenpolitisches Machtinstrument zur Verfügung steht. Die Reaktionen der lokalen Politik, von Gouverneur J.B. Pritzker bis Bürgermeister Brandon Johnson, sind von scharfer Ablehnung geprägt. Sie verurteilen die „Militarisierung“ ihrer Stadt und bezeichnen die Bundeskräfte als „gestiefelte Schläger“. Doch ihre Proteste verhallen angesichts der vollendeten Tatsachen, die die Bundesregierung schafft.

Das programmierte Misstrauen

Die Kollateralschäden dieser Politik sind immens und manifestieren sich vor allem in der Zerstörung sozialen Kapitals. Das über Jahre mühsam aufgebaute Vertrauen zwischen Einwanderergemeinschaften und der lokalen Polizei wird systematisch untergraben. Wenn jede Verkehrskontrolle potenziell in einer Abschiebung enden kann, wird die Polizei vom Helfer zum Feind. Einwanderer, die Opfer oder Zeugen von Verbrechen werden, stehen vor einem unlösbaren Dilemma: Rufen sie die Polizei und riskieren damit ihre eigene Deportation oder die eines Angehörigen? Diese Angst lähmt ganze Gemeinschaften und schafft rechtsfreie Räume, in denen Kriminelle leichteres Spiel haben.

Der Vorfall vor einer zweisprachigen Schule in Washington D.C., wo eine Festnahme im Beisein zahlreicher Kinder und Eltern stattfand, illustriert die traumatisierende Wirkung dieser Einsätze. Die Schule, die eine enge Beziehung zur lokalen Polizei pflegte, sieht diese Partnerschaft nun akut gefährdet. Die zynische Antwort eines Polizisten an schockierte Passanten – „Wenn Sie so ein Problem mit uns haben, rufen Sie nächstes Mal nicht die 911“ – offenbart die vergiftete Atmosphäre und den Zielkonflikt, in dem sich die Beamten selbst befinden. Gleichzeitig leiden lokale, oft von Einwanderern geführte Unternehmen. Eine Landschaftsbaufirma in D.C. sah sich gezwungen, ihre Arbeit in der Stadt vorübergehend einzustellen, um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter zu gewährleisten. Diese Verteilungswirkungen treffen gezielt jene, die ohnehin schon in prekären Verhältnissen leben, und zerstören die soziale und wirtschaftliche Stabilität ganzer Nachbarschaften.

Die Umdeutung des Rechts

Auf den ersten Blick agiert die Bundesregierung im Rahmen ihrer Zuständigkeiten, denn die Einwanderungsgesetzgebung ist Bundessache. Doch die Art und Weise, wie diese Zuständigkeit durchgesetzt wird, hebelt gezielt lokale Autonomierechte aus und dehnt die Exekutivmacht auf eine Weise, die historisch höchst bedenklich ist. Die Erklärung eines „Kriminalitätsnotstandes“ in Washington D.C. diente als juristischer Hebel, um die städtische Polizei zur Kooperation zu zwingen und das lokale „Sanctuary“-Gesetz temporär außer Kraft zu setzen.

Der Einsatz des Militärs im Inland wird durch den Posse Comitatus Act von 1878 stark eingeschränkt. Dieses Gesetz verbíetet den direkten Einsatz von Armeeangehörigen zu Strafverfolgungszwecken. Zwar gibt es Ausnahmen, etwa für die Nationalgarde unter bestimmten Umständen, doch der Geist des Gesetzes ist eindeutig: Das Militär soll nach außen wirken, nicht nach innen. Die Geschichte der USA kennt zwar Fälle, in denen Präsidenten Truppen im Inland eingesetzt haben, doch die Kontexte waren fundamental andere. Als Präsident Dwight D. Eisenhower 1957 die 101. Luftlandedivision nach Little Rock, Arkansas, schickte, tat er dies, um ein Urteil des Obersten Gerichtshofs zur Aufhebung der Rassentrennung gegen den Widerstand eines segregationistischen Gouverneurs durchzusetzen. Er nutzte das Militär also, um das Bundesrecht zu vollstrecken. Präsident Trump hingegen setzt Militär und Bundespolizei ein, um lokale Gesetze zu unterlaufen und eine politische Agenda zu verfolgen, die nicht auf einer akuten, landesweiten Krise oder einem Gerichtsurteil basiert, sondern auf einer selbst deklarierten Notlage. Dies ist eine gefährliche Umdeutung der exekutiven Befugnisse, die das Gleichgewicht zwischen Bund und Einzelstaaten nachhaltig stören könnte.

Die Uniform als politisches Instrument

Die vielleicht größte Langzeitgefahr dieser Entwicklung liegt in der Politisierung des amerikanischen Militärs. Die Tradition einer strikt unparteiischen Armee, die der Verfassung und nicht einem einzelnen Präsidenten oder einer Partei dient, ist ein Grundpfeiler der amerikanischen Demokratie. Diese Norm, die auf die Zeit nach dem Bürgerkrieg und auf General Ulysses S. Grant zurückgeht, soll verhindern, dass die Streitkräfte zu einer Prätorianergarde des jeweiligen Machthabers verkommen.

Präsident Trump hat diese Tradition bereits in seiner ersten Amtszeit herausgefordert und tut dies nun mit neuer Entschlossenheit. Indem er Generäle vor laufender Kamera anweist, ihren Blick auf amerikanische Städte zu richten und diese als „Feind im Inneren“ zu betrachten, bricht er bewusst mit diesem ungeschriebenen Gesetz. Er verwandelt die Uniform in ein Symbol parteipolitischer Macht und zwingt Soldaten in eine Rolle, die ihrer eigentlichen Aufgabe – der Verteidigung des Landes gegen äußere Feinde – Hohn spricht. Diese Instrumentalisierung birgt das Risiko, das hohe Ansehen, das das Militär in der amerikanischen Bevölkerung genießt, nachhaltig zu beschädigen. Wenn Soldaten nicht mehr als neutrale Beschützer der Nation, sondern als verlängerter Arm einer politischen Partei wahrgenommen werden, untergräbt dies ihre Legitimität und kann zu einer tiefen Spaltung innerhalb der Streitkräfte selbst führen. Die Bereitschaft der republikanischen Mehrheiten im Kongress, diese Entwicklung tatenlos hinzunehmen oder gar zu unterstützen, hat die Kontrollmechanismen, die die Verfassungsväter vorgesehen hatten, faktisch ausgehebelt. Was bleibt, ist ein besorgniserregender Präzedenzfall für die zukünftige Nutzung des Militärs als innenpolitisches Druckmittel. Der doppelte Notstand – der proklamierte auf den Straßen und der reale für die Demokratie – ist in vollem Gange.

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