Der gekaufte Friede der Autokraten: Warum der Westen seine eigene Stärke neu entdecken muss

Illustration: KI-generiert

Eine neue Weltordnung formiert sich vor unser aller Augen, und ihre Architekten tragen keine Banner der Freiheit, sondern die Insignien unumschränkter Macht. Fünfunddreißig Jahre, nachdem der Westen im Taumel des Triumphs das Ende der Geschichte ausrief, erleben wir eine Zäsur, die diesen Glaubenssatz als das entlarvt, was er immer war: eine gefährliche Illusion. Eine Phalanx autoritärer Herrscher, angeführt von einem selbstbewussten Xi Jinping in Peking und einem revanchistischen Wladimir Putin in Moskau, hat sich in Stellung gebracht, um die liberale Weltordnung herauszufordern. Diese autokratische Internationale begnügt sich nicht mehr damit, in den Nischen des globalen Systems zu überleben; sie beansprucht Deutungshoheit und gestaltet die Zukunft nach ihren eigenen Regeln. Ihr Aufstieg ist jedoch kein bloßer Betriebsunfall der Geschichte. Er ist vielmehr das Symptom einer tiefgreifenden Krise des Westens, der seine eigenen Werte erodieren ließ und die ökonomische Kompetenz, die einst seine größte Stärke war, vernachlässigte. Die moderne Autokratie, wie sie in China, Russland, aber auch in der Türkei und mitten in Europa, in Ungarn, praktiziert wird, ist ein Zerrspiegel, der die Schwächen der liberalen Demokratien schonungslos offenlegt. Ihre zeitweilige Stärke speist sich nicht aus einer überlegenen Ideologie, sondern aus einer pragmatischen Mischung aus marktwirtschaftlicher Leistung und totaler politischer Kontrolle – einem Modell, das umso verführerischer wirkt, je mehr der Westen, unter einem spalterischen US-Präsidenten wie Donald Trump, mit sich selbst beschäftigt ist.

Das Erfolgsrezept des autoritären Kapitalismus

Die Alleinherrscher des 21. Jahrhunderts sind keine plumpen Tyrannen alter Schule. Sie haben die Lektionen der Geschichte studiert und die Achillesfersen ihrer Vorgänger analysiert. Jede Diktatur laboriert an einem Geburtsfehler, den Politikwissenschaftler als die „Tyrannenfalle“ beschreiben: Der Diktator, der sich über Recht und Gesetz gestellt hat, kann seine Macht niemals gefahrlos aufgeben, denn der Verlust seines Amtes bedeutet meist den Verlust von Freiheit, Besitz oder gar des Lebens. Dieser Zwang zum Machterhalt um jeden Preis erzeugt traditionell zwei systemische Probleme: eine lähmende Rechtsunsicherheit, die Investitionen erstickt, und ein fatales Informationsdilemma, bei dem der von Jasagern umgebene Herrscher den Bezug zur Realität verliert.

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Die modernen Autokraten von Xi bis Orbán haben jedoch raffinierte Mechanismen entwickelt, um diese Falle zumindest zeitweise zu umgehen. Ihr vielleicht wichtigster Schachzug war die Abkehr von der kommunistischen Planwirtschaft und die Hinwendung zu einer Form des staatlich gelenkten Kapitalismus. Sie folgten nicht dem Dogma von Marx, sondern dem Pragmatismus einer Margaret Thatcher. Wladimir Putin sicherte seine Machtbasis, indem er der russischen Wirtschaft einen der niedrigsten Einkommensteuersätze der Welt gewährte und einen Pakt mit den Oligarchen schloss: unermesslicher Reichtum gegen politische Loyalität. Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei entfesselte die Kräfte des Mittelstandes und förderte eine neue Unternehmerschicht, die als „anatolische Tiger“ bald die Weltmärkte eroberte. Und Viktor Orbán in Ungarn schuf mit seiner „Mercedes First“-Politik eine Oase der Verlässlichkeit für deutsche Automobilkonzerne, die mit niedrigen Steuern und gefügigen Behörden ins Land gelockt wurden, während die heimische Wirtschaft der Willkür seiner kleptokratischen Günstlinge ausgesetzt war.

Parallel dazu modernisierten sie die Instrumente der Repression. Statt auf allgegenwärtige Spitzelsysteme nach Stasi-Art zu setzen, steuern sie die öffentliche Meinung durch den Aufkauf kritischer Medien durch regierungsfreundliche Unternehmer und den Einsatz modernster Methoden des politischen Marketings. Sie verbieten nicht, sie domestizieren. Sie unterdrücken nicht jeden Widerspruch, sie kanalisieren ihn. So schaffen sie es, ein Minimum an Informationsfluss für die Wirtschaft aufrechtzuerhalten, während sie jede ernsthafte politische Bedrohung im Keim ersticken.

Demokratieversagen als Nährboden der Macht

Diese autoritären Erfolgsmodelle entstanden jedoch nicht im luftleeren Raum. Ihr Aufstieg wurde maßgeblich durch das Versagen der liberalen Demokratien in ihren eigenen Ländern begünstigt. Die neuen starken Männer konnten sich als Retter inszenieren, weil die vorhergehenden demokratischen Experimente in den Augen der Bevölkerung mit Chaos, Korruption und wirtschaftlichem Niedergang verbunden waren. In Russland hatten die Bürger die 1990er-Jahre unter Boris Jelzin als eine Abfolge von Hyperinflation und industriellem Kollaps erlebt. In der Türkei hatte eine verfilzte Parteienoligarchie einen verheerenden Bankencrash zu verantworten, der unzählige Bürger um ihre Ersparnisse gebracht hatte. Und in Ungarn hatte eine sozialistische Regierung das Land derart an den Rand des Bankrotts gewirtschaftet, dass der Internationale Währungsfonds eingreifen musste.

Die Autokraten boten eine simple, aber wirkungsvolle Alternative: Stabilität und Wohlstand im Tausch gegen politische Freiheit. In den ersten Jahren der Ära Putin verdoppelte sich das Pro-Kopf-Einkommen in Russland, und Millionen stiegen in die Mittelschicht auf. In der Türkei erlebte die Wirtschaft Wachstumsraten von bis zu zehn Prozent, und ein Lebensstandard mit Auto und Waschmaschine rückte für viele in greifbare Nähe. Diese materiellen Erfolge bildeten das Fundament ihrer Macht. Sie kauften sich die Zustimmung ihrer Bevölkerungen, indem sie lieferten, was die Demokratie zuvor nur versprochen hatte. Diese Entwicklung offenbart eine unbequeme Wahrheit: Der Ruf nach Freiheit verhallt oft ungehört, wenn der Magen knurrt. Der Westen hat diese Lektion, die er selbst im Kalten Krieg meisterhaft anwandte, sträflich vergessen.

Die illiberale Internationale und der zerstrittene Westen

Die neue autokratische Welle ist mehr als die Summe einzelner nationaler Projekte. Wir beobachten die Formierung eines kohärenten Blocks mit einem gemeinsamen Ziel: die Demontage der regelbasierten, liberalen Weltordnung und deren Ersatz durch ein System, in dem Macht über Recht triumphiert. Diese „autokratische Internationale“ profitiert enorm von der Zerrissenheit und den Selbstzweifeln des Westens. Die illiberale Politikwende in den Vereinigten Staaten unter Donald Trump ist für sie ein Glücksfall. Trumps Angriffe auf die liberalen Traditionen der ältesten Demokratie der Welt und seine nationalistische Zollpolitik, die selbst demokratische Partner wie Indien oder Brasilien vor den Kopf stößt, treiben potenzielle Verbündete geradewegs in die Arme Chinas.

Gleichzeitig agieren Autokraten wie Viktor Orbán als trojanische Pferde innerhalb der westlichen Institutionen. Orbán hat meisterhaft demonstriert, wie man die Demokratie mit demokratischen Mitteln aushöhlt. Er nutzt die Finanzströme der Europäischen Union, um seine Günstlinge zu versorgen und seine kleptokratische Herrschaft zu zementieren, während er gleichzeitig die rechtsstaatlichen Kontrollmechanismen der EU untergräbt. Er hat die EU-Institutionen, die ein Bollwerk gegen den Autoritarismus sein sollten, zu Werkzeugen seines Machterhalts pervertiert. Diese innere Erosion ist für den Westen womöglich gefährlicher als der äußere Druck, denn sie vergiftet das Bündnis von innen und lähmt seine Handlungsfähigkeit.

Die Risse in der glänzenden Fassade

Doch trotz ihrer beeindruckenden Erfolgsbilanz und der Schwäche ihres Gegners ist das Fundament der neuen Autokratien brüchig. Der ökonomische Glanz, mit dem sie ihre Herrschaft legitimieren, droht zu verblassen. Etwa seit Mitte des letzten Jahrzehnts hat sich das Wachstum in China, Russland und der Türkei merklich abgeschwächt. Die Korruption blüht, und die soziale Ungleichheit übersteigt vielerorts das Niveau westlicher Staaten. An diesem Punkt schlägt die „Tyrannenfalle“ unweigerlich zu. Aus Angst, die Unterstützung der Massen zu verlieren, verstärken die Regime die Repression und den Zugriff auf die Wirtschaft.

Die Folgen sind haarsträubende Fehlentscheidungen. Kremlchef Putin, gefangen in seiner imperialen Obsession, treibt Russlands Wirtschaft mit einem ruinösen Krieg gegen die Ukraine an den Abgrund. Chinas Machthaber Xi, der die kollektive Führung der Partei durch eine persönliche Alleinherrschaft ersetzt hat, zwang sein Land in ökonomisch unsinnige und brutale Corona-Lockdowns. Und Erdoğan sowie Orbán versuchten, ihre Macht durch eine Politik des billigen Geldes zu sichern, was ihre Bürger nun mit galoppierender Inflation bezahlen. Diese Beispiele zeigen, dass makroökonomische Wachstumszahlen allein keine verlässlichen Indikatoren für die langfristige Stabilität eines Systems sind. Wenn die politische Logik des Machterhalts die ökonomische Rationalität aushebelt, ist der Niedergang vorprogrammiert. Der gekaufte Friede hat einen Preis, und die Rechnung wird früher oder später fällig.

Die Stunde der Wahrheit für den Westen

Der Aufstieg der modernen Autokratien ist die größte strategische Herausforderung für die liberalen Demokratien seit dem Ende des Kalten Krieges. Die gute Nachricht ist, dass diese Regime die systemimmanenten Schwächen der Diktatur nicht überwunden, sondern nur kaschiert haben. Die schlechte Nachricht ist, dass der Glaube an eine naturgegebene Überlegenheit des westlichen Modells sich als fataler Irrtum erwiesen hat. Wenn der Westen in diesem neuen Systemkonflikt bestehen will, muss er zu den Wurzeln seines einstigen Erfolgs zurückkehren.

Dies erfordert eine doppelte Kraftanstrengung. Erstens muss der Westen seine Verteidigungsfähigkeit massiv stärken, um die immer aggressiver auftretenden Autokratien militärisch abschrecken zu können. Ein Dialog auf Augenhöhe ist nur aus einer Position der Stärke möglich. Zweitens, und das ist die entscheidendere Aufgabe, muss er die Überlegenheit seines eigenen Gesellschaftsmodells neu unter Beweis stellen. Es genügt nicht, die Werte der Freiheit, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zu predigen. Der Westen muss zeigen, dass dieses Modell in der Lage ist, die drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen: technologische Innovationen zu fördern, den Klimawandel zu bewältigen und vor allem einen breit verteilten Wohlstand zu schaffen, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichert. Die Maxime, mit der der Westen einst den Kommunismus besiegte, gilt heute mehr denn je: Wer die Wirtschaft stärkt, sichert die Demokratie. Die Systemauseinandersetzung des 21. Jahrhunderts wird nicht allein auf dem Feld der Werte entschieden, sondern in der Arena der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit. Wer hier versagt, verliert nicht nur an Einfluss, sondern riskiert die Substanz seiner eigenen Freiheit.

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