Der Labubu-Code: Wie ein kleiner Kobold Chinas Ambitionen, die Mode und unsere Sehnsüchte entschlüsselt

Illustration: KI-generiert

Sie baumeln an den Henkeln sündhaft teurer Designer-Handtaschen, grinsen aus den Instagram-Feeds von Weltstars und lösen in den Metropolen von London bis Los Angeles tumultartige Szenen aus. Ein kleiner, flauschiger Kobold mit Hasenohren und einem frechen, zahnreichen Lächeln hat sich zu einem globalen Phänomen entwickelt, das weit mehr ist als nur ein kurzlebiger Spielzeug-Hype. Die Rede ist von Labubu, einer Kreation des chinesischen Giganten Pop Mart, die sich mit verblüffender Geschwindigkeit vom Sammlerstück zu einem komplexen kulturellen Symbol gewandelt hat. Doch wer nur ein niedliches Püppchen sieht, übersieht die eigentliche Geschichte. Denn im Kern ist die Erfolgsgeschichte dieser Figur eine faszinierende Fallstudie, die tief in die Mechanismen moderner Konsumkultur, die strategischen Ambitionen Chinas und die kollektiven Sehnsüchte einer verunsicherten Welt blicken lässt. Der Labubu-Code offenbart, wie ein Spielzeug zum Spiegelbild geopolitischer Machtverschiebungen und zur Projektionsfläche für eine erwachsene Suche nach Trost und Identität werden kann.

Die Anatomie eines Hypes: Wie man eine Obsession verkauft

Der Erfolg von Labubu ist kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis einer meisterhaft orchestrierten Marketingstrategie, die psychologische Triggerpunkte mit chirurgischer Präzision bedient. Das Herzstück dieser Strategie ist das Prinzip der „Blind Box“. Jede Puppe wird in einer versiegelten Verpackung verkauft, deren Inhalt der Käufer erst nach dem Öffnen erfährt. Dieser simple Kniff verwandelt den Kaufakt in ein Glücksspiel, einen kleinen Rausch aus Vorfreude und Überraschung, der, wie bei Sammelkarten, eine Dopamin-Spirale in Gang setzt. Man kauft nicht nur ein Produkt, sondern die Chance auf etwas Seltenes, das Gefühl, einen Schatz gehoben zu haben.

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Pop Mart befeuert diese Jagdleidenschaft zusätzlich durch eine Politik der künstlichen Verknappung. Neue Serien sind oft binnen Minuten ausverkauft, was zu langen Schlangen, nächtlichen Camps vor den Läden und teils chaotischen Szenen führt, die an die Veröffentlichung eines neuen iPhones oder den Kampf um Konzertkarten erinnern. Dieser inszenierte Mangel steigert nicht nur den wahrgenommenen Wert der Puppen, sondern schmiedet auch eine eingeschworene Gemeinschaft von Jägern und Sammlern, die online und offline Tipps austauschen und ihre Erfolge feiern. So wird der Kauf selbst zu einem sozialen Ereignis, einem Abenteuer, das den materiellen Wert des Objekts um ein emotionales Investment übersteigt. Der Hype nährt sich selbst, verstärkt durch die Allgegenwart in den sozialen Medien, wo Influencer und Stars wie Rihanna, Dua Lipa oder Lisa von Blackpink die Labubu als unverzichtbares Accessoire inszenieren und damit eine globale Nachfragewelle auslösen.

Mehr als nur ein Spielzeug: Chinas flauschige Soft-Power-Offensive

Während die Welt im Labubu-Fieber versinkt, beobachtet man in Peking den Aufstieg des kleinen Elfen mit strategischem Wohlwollen. Denn hinter dem kommerziellen Erfolg von Pop Mart verbirgt sich eine weitaus größere Ambition: der Wandel von Chinas globaler Wahrnehmung. Lange Zeit stand das Label „Made in China“ für Massenproduktion und oftmals für Kopien. Nun soll Labubu, neben anderen kulturellen Exporten wie dem Videospiel „Black Myth: Wukong“, dabei helfen, dieses Image zu transformieren – hin zu „Chinese Brands“, die für Kreativität, Design und emotionale Resonanz stehen. Eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums lobte Produkte wie Labubu explizit für ihre Ästhetik und ihren Beitrag zur Entwicklung des Landes von einer Produktionsstätte zu einer kreativen Wirtschaftsmacht.

Vor diesem Hintergrund bekommt der entschlossene Kampf der chinesischen Behörden gegen die massenhaft auftretenden Fälschungen, die sogenannten „Lafufus“, eine tiefere, geopolitische Bedeutung. Tausende gefälschte Puppen werden vom Zoll beschlagnahmt, Razzien auf Märkten durchgeführt. Hier entfaltet sich eine bemerkenswerte Ironie: Ausgerechnet China, das Land, das über Jahrzehnte als Werkbank der Welt für Fälschungen aller Art galt, inszeniert sich nun als Gralshüter des geistigen Eigentums. Doch es geht um mehr als nur den Schutz der Marke Pop Mart. Wie ein Wirtschaftsprofessor der Universität Hongkong anmerkt, geht es darum, „Chinas Soft Power zu schützen“ und zu beweisen, dass das chinesische IP-System in der Lage ist, „die nächste Labubu“ hervorzubringen und zu verteidigen. Jede beschlagnahmte „Lafufu“ ist somit auch eine Botschaft an die Welt: China sieht sich nicht länger als Kopierer, sondern als Innovator, der seine kreativen Schöpfungen mit aller Härte verteidigt.

Die Sehnsucht nach dem Unperfekten: Eskapismus im Zeitalter der „Kidulthood“

Warum aber verfallen so viele Erwachsene diesem Kult? Ein Teil der Antwort liegt in einem breiteren gesellschaftlichen Phänomen, das als „Kidulthood“ bezeichnet wird – die zunehmende Aufweichung der Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. In einer Welt, die von Krisen, wirtschaftlicher Unsicherheit und einem ständigen Nachrichtenstrom an deprimierenden Meldungen geprägt ist, scheinen viele Erwachsene eine Zuflucht im Spielerischen und Kindlichen zu suchen. Labubu wird zu einem Vehikel des Eskapismus, einem „politikfreien“ Objekt, das Trost spendet und harmlose Gespräche ermöglicht. Es ist die bewusste Entscheidung, dem Ernst des Lebens ein spielerisches Element entgegenzusetzen.

Dabei spielt die spezielle Ästhetik der Puppe eine entscheidende Rolle. Labubu ist nicht einfach nur süß, sondern „ugly-cute“ – eine Mischung aus entzückend und monströs, unschuldig und chaotisch. Dieses bewusst Unperfekte, leicht Abseitige macht die Figur für Erwachsene anschlussfähiger als makellose Niedlichkeit. Es verleiht dem Träger eine Aura des „Edgy-Seins“, eine subtile Rebellion gegen glattpolierte Konventionen. Das Tragen einer Labubu, insbesondere an einer teuren Luxustasche, wird so zu einem Statement. Es ist eine Form von „kulturellem Kapital“, das signalisiert: Ich bin Teil einer bestimmten Subkultur, ich bin „in the know“, modisch und doch verspielt. Die Puppe wird zum persönlichen Totem, zu einem kleinen, tragbaren Begleiter, der die eigene Identität unterstreicht – ähnlich wie es einst die Fans von Stanley-Trinkbechern taten.

Das Lächeln der Fälschung: Warum die „Lafufu“ mehr als nur eine billige Kopie ist

Parallel zum offiziellen Kult hat sich jedoch eine faszinierende Gegenbewegung etabliert: die der „Lafufu“-Liebhaber. Für viele Konsumenten sind die Fälschungen nicht nur eine billigere Alternative, sondern besitzen einen ganz eigenen Reiz. Einige Sammler finden geradezu Gefallen an den oft misslungenen Kopien – den schiefen Ohren, den falschen Augenfarben, dem „verpfuschten“ Aussehen. Die Jagd nach der schrägsten Fälschung wird zu einem eigenen Spiel, einem ironischen Kommentar auf den ursprünglichen Hype.

Dieses Phänomen ist Teil einer größeren „Dupe Culture“, die vor allem unter Millennials und Gen Z an Popularität gewinnt und den Kauf von Fälschungen entstigmatisiert. Auf Plattformen wie Reddit und TikTok werden ganz offen Tipps zum Kauf von Lafufus ausgetauscht und die „Unboxing“-Videos der Fakes stolz präsentiert. Hier verkehrt sich der Wert von Originalität. Ein besonders seltsam aussehendes Duplikat kann für seinen Besitzer einen unschätzbaren, persönlichen Wert erlangen, für den sogar hohe Summen geboten werden. Die Lafufu ist somit mehr als eine Kopie; sie ist ein Akt der Aneignung, eine humorvolle Subversion des Luxus- und Sammelwahns, die die Frage nach dem wahren Wert eines Objekts aufwirft.

Ein Spiegel der Kultur: Vom Spielzeug-Regal auf die Kinoleinwand

Die kulturelle Durchdringung des Labubu-Geistes ist mittlerweile so umfassend, dass sie sich sogar in Hollywood widerspiegelt. Filmkritiker beobachten einen „Labubu-Effekt“ auf der Kinoleinwand: ein Übermaß an „süßen Sidekicks“, die auffallend oft die „ugly-cute“-DNA der Puppen in sich tragen. Figuren wie Stitch aus „Lilo & Stitch“, der Drache Toothless oder sogar neue Kreaturen in den „Jurassic World“-Filmen bedienen dasselbe Bedürfnis nach liebenswerten, aber leicht chaotischen und unperfekten Begleitern. Sie sind, wie Labubu, Projektionsflächen für unseren Wunsch nach einem harmlosen Chaos in einer allzu ernsten Welt.

Diese Entwicklung ist natürlich auch ein cleverer Marketing-Schachzug. Die Figuren lassen sich hervorragend als Merchandise vermarkten, und Pop Mart selbst ist längst ins Geschäft mit Disney-Charakteren wie Stitch eingestiegen, was den Kreis schließt. Der Labubu-Trend und seine filmischen Verwandten sind somit nicht nur ein kulturelles Barometer, sondern auch ein Motor der Konsumgüterindustrie.

Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass der kleine Elf mit dem schelmischen Grinsen weit über seine materielle Form hinausgewachsen ist. Labubu ist ein Knotenpunkt, an dem sich globale Wirtschaftsstrategien, die Dynamiken der sozialen Medien, die Psychologie des Sammelns und die tiefen menschlichen Bedürfnisse nach Spiel, Identität und Trost in einer komplexen Welt kreuzen. Es ist die Geschichte darüber, wie China lernt, die Herzen und Geldbörsen des Westens mit kulturellen Symbolen zu erobern. Und es ist die Geschichte über uns selbst – über eine Gesellschaft, die in einem kleinen, unperfekten Plüschtier einen willkommenen Funken Freude und Rebellion findet.

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