Bidens letzter Federstrich: Wie die Macht der Gnade zum Schlachtfeld eines politischen Krieges wurde

Illustration: KI-generiert

Am Ende einer Präsidentschaft steht oft die Geste der Gnade. Doch was bei Joseph R. Biden Jr. ein Akt der Milde und der politischen Korrektur sein sollte, wurde umgehend in das genaue Gegenteil verkehrt: in ein Beweisstück für seine angebliche Amtsunfähigkeit und den angeblichen Verrat seiner engsten Mitarbeiter. Im Zentrum dieser explosiven Erzählung, die von Donald Trump und seinen Verbündeten mit aller Macht vorangetrieben wird, steht ein unscheinbares, aber juristisch potentes Gerät: der Autopen. Dieses Instrument, das die Unterschrift eines Präsidenten maschinell repliziert, ist seit Jahrzehnten ein gängiges Hilfsmittel im Weißen Haus, um die Flut an Dokumenten zu bewältigen. Auch andere Präsidenten, Donald Trump eingeschlossen, haben es genutzt. Biden selbst begründet den Einsatz des Geräts mit der schieren Masse der Gnadenakte, die Tausende von Personen betrafen.

Doch in der politisch aufgeladenen Atmosphäre Washingtons wird aus einer pragmatischen Notwendigkeit schnell eine Verschwörungstheorie. Die Republikaner, allen voran Trump, zeichnen das Bild eines kognitiv beeinträchtigten Präsidenten, der nicht mehr Herr seiner Sinne sei, während im Hintergrund ein illoyaler Stab die Macht an sich gerissen habe und mit dem Autopen nach Belieben präsidentielle Dekrete ausfertige. Diese Behauptungen gipfelten in parallelen Untersuchungen des Justizministeriums und republikanisch geführter Kongressausschüsse, die den Vorgängen auf den Grund gehen sollen. Die Verwendung des Autopens wird dabei gezielt instrumentalisiert, um die Legitimität der gesamten Gnadenwelle zu untergraben und das Narrativ eines führungslosen Weißen Hauses zu zementieren. Es ist eine Strategie, die weniger auf juristische Fakten als auf die Erzeugung von Misstrauen und die Delegitimierung des politischen Gegners zielt.

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Gnade nach Gutsherrenart? Bidens zweigleisige Strategie

Ein genauerer Blick auf die Gnadenakte, gestützt durch interne E-Mails und Bidens eigene Aussagen, entlarvt jedoch ein weitaus differenzierteres und strategischeres Vorgehen, als es die republikanischen Vorwürfe suggerieren. Bidens Gnadenpolitik folgte einer klaren zweigleisigen Strategie, die zwischen großangelegten, kategoriebasierten Strafumwandlungen und hochpolitischen, individuellen Begnadigungen unterschied. Einerseits gab es die massenhaften Strafmilderungen, die eine politische Agenda verfolgten. Rund 1.500 Häftlinge, die während der Pandemie in den Hausarrest verlegt worden waren, wurden vor der Rückkehr ins Gefängnis bewahrt. Weitere 2.500 Personen, die wegen gewaltfreier Drogendelikte verurteilt wurden, erhielten Strafen, die dem heutigen, milderen Recht entsprachen. In diesen Fällen legte Biden nach intensiven Diskussionen die allgemeinen Kriterien fest; er segnete die Standards ab, nicht jeden einzelnen Namen. Es war ein systemischer Ansatz zur Korrektur einer als ungerecht empfundenen Justizpraxis.

Ganz anders verhielt es sich bei den präventiven Begnadigungen für politisch exponierte Persönlichkeiten. Hier war der Prozess zutiefst persönlich und von individuellen Abwägungen geprägt. Als Beispiel nannte Biden selbst den ehemaligen Generalstabschef Mark Milley. Dessen Name sei ihm von Mitarbeitern vorgetragen worden, und er habe bewusst und gezielt entschieden, ihn zu begnadigen. Der Grund war nicht die Korrektur eines Justizirrtums, sondern die Antizipation politischer Verfolgung. „Wir wissen, wie nachtragend Trump ist“, so Biden, „und ich hatte keinen Zweifel, dass sie ohne guten Grund auf Mark losgegangen wären“. Diese Unterscheidung zwischen einer pauschalen, politikgetriebenen und einer individualisierten, strategischen Gnade zeigt ein Weißes Haus, das keineswegs führungslos agierte, sondern seine Machtmittel sehr überlegt und für unterschiedliche Zwecke einsetzte.

Ein Schutzschild gegen die Rache: Die Logik der präventiven Begnadigungen

Die präventiven Begnadigungen für Persönlichkeiten wie General Milley, den ehemaligen Pandemieberater Dr. Anthony Fauci, Mitglieder des Untersuchungsausschusses zum 6. Januar und sogar seine eigenen Familienangehörigen bilden den Kern des politischen Konflikts. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis der gesamten Affäre, denn sie offenbaren eine außergewöhnliche Maßnahme in einem ebenso außergewöhnlichen politischen Klima. Biden selbst legt die Logik dahinter mit entwaffnender Offenheit dar: Es war ein kalkulierter Schutzschild gegen die erwartete Rachsucht einer zukünftigen Trump-Administration. Er habe bewusst gehandelt, um diese Personen vor politisch motivierten Ermittlungen zu bewahren, die vor allem hohe Anwaltskosten verursachen sollten.

Diese Gnadenakte waren somit keine Akte der Vergebung für begangenes Unrecht – ein solches wurde nie behauptet –, sondern ein strategischer Schachzug im politischen Krieg. „Jeder weiß, wie nachtragend er ist“, erklärte Biden mit Blick auf Trump. Man habe gewusst, dass sie „genau das tun würden, was sie jetzt tun“. Diese Begründung verwandelt das traditionelle Instrument der Gnade in eine präventive Waffe. Es ist das Eingeständnis, dass die Institutionen der Justiz in den Augen der Biden-Administration so stark politisiert sind, dass sie von einem Nachfolger als Instrument der Vergeltung missbraucht werden könnten. Die Begnadigungen sind damit ein Spiegel der tiefen Zerrüttung und des gegenseitigen Misstrauens, das die amerikanische Politik prägt. Sie sind weniger ein Zeichen von Schwäche als vielmehr eine Demonstration von strategischem Denken, das die Normen des politischen Anstands als bereits aufgekündigt betrachtet.

Im Maschinenraum der Macht: Zögern, Lobbyismus und moralische Grenzen

Die internen Abläufe, die durch die Berichte teilweise rekonstruiert werden, zeichnen das Bild eines komplexen und bisweilen auch fehlbaren Entscheidungsprozesses, der weit entfernt ist vom simplen Narrativ einer Verschwörung. Drei Fälle illustrieren die verschiedenen Facetten der Machtausübung im Oval Office. Da ist zum einen der Fall des ehemaligen demokratischen Gouverneurs Don Siegelman. Die E-Mails aus dem Weißen Haus zeigen, dass Biden seine Begnadigung zunächst am 18. Januar beschlossen hatte, diese Entscheidung aber am Abend des 19. Januar, seiner letzten Nacht im Amt, wieder rückgängig machte. Biden erklärte später, er habe nach weiterer Überlegung und Beratung mit seinem Team anders entschieden, zumal Siegelman seine Haftstrafe bereits verbüßt hatte und nicht in Gefahr war. Dieser Vorgang belegt einen Prozess des aktiven Abwägens und der Neubewertung – das genaue Gegenteil eines desinteressierten Präsidenten.

Der Fall von Ernest Cromartie II, einem ehemaligen Lokalpolitiker aus South Carolina, beleuchtet eine andere, klassische Facette der Macht: den Einfluss von Lobbyismus und persönlichen Beziehungen. Die Entscheidung, Cromartie zu begnadigen, fiel erst in letzter Minute, nachdem Biden von seinem engen politischen Verbündeten, dem Kongressabgeordneten James Clyburn, persönlich darum gebeten worden war. Clyburn habe ihn von der Würdigkeit des Mannes überzeugt, der sich nach seiner Haftstrafe vorbildlich in der Gemeinschaft engagiert habe. „Ich stimmte Jim zu und begnadigte ihn“, so Biden. Dieser Fall zeigt, wie auch in einem durchgeplanten Prozess persönliche Appelle bis zur letzten Sekunde wirksam sein können.

Die vielleicht aufschlussreichste Entscheidung war jedoch die, die Biden nicht traf. Während er die Todesurteile von 37 der 40 Insassen im Bundestrakt in lebenslange Haft umwandelte, beließ er es bei drei Verurteilten bei der Todesstrafe. Obwohl er, wie er selbst sagte, sogar vom Papst für seinen grundsätzlichen Widerstand gegen die Todesstrafe gelobt wurde, zog er hier eine klare Grenze. Die Verbrechen dieser drei Personen, die im Zusammenhang mit Terrorismus und Hassverbrechen mit „nationalen Auswirkungen“ standen, seien „eine Brücke zu weit“ gewesen. Ihre Taten hätten eine Symbolkraft gehabt, die über das individuelle Verbrechen hinausging. Diese moralische und politische Grenzziehung demonstriert einen Präsidenten, der auch unter Druck bereit ist, unpopuläre Entscheidungen zu treffen und seine Prinzipien gegen pragmatische oder symbolische Erwägungen abzuwägen.

Dieser Blick in den Maschinenraum der Macht entlarvt die republikanische Karikatur eines handlungsunfähigen Präsidenten. Stattdessen zeigt er einen komplexen Apparat, in dem systematische Planung, persönliche Abwägung, politischer Einfluss und moralische Grenzziehungen ineinandergreifen. Um diese Darstellung zu kontern, hat das Biden-Lager ein klares Gegen-Narrativ etabliert, das auf dokumentierten Prozessen fußt. Kernstück sind interne E-Mails, die belegen sollen, dass es ein etabliertes Verfahren gab: Biden traf seine Entscheidungen mündlich in Anwesenheit leitender Mitarbeiter wie Stabschef Jeffrey Zients und Rechtsberater Ed Siskel. Diese mündlichen Anweisungen wurden anschließend in schriftlichen Vermerken, sogenannten „Blurbs“, festgehalten und an die zuständige Mitarbeiterin weitergeleitet, die den Autopen bediente. Dieser dokumentierte Prozess soll beweisen, dass die Unterschrift nur die letzte, rein administrative Ausführung eines zuvor bewusst getroffenen präsidentiellen Willens war.

Die von Trump und den Republikanern angestoßenen Untersuchungen setzen die ehemaligen Mitarbeiter Bidens dennoch unter erheblichen Druck. Sie sehen sich mit Vorladungen konfrontiert und der impliziten Drohung von Meineidsverfahren, sollte es zu kleinsten Widersprüchen in ihren Aussagen kommen. Viele haben renommierte und teure Anwaltskanzleien engagiert, um sich zu verteidigen. Die Reaktionen fallen unterschiedlich aus: Während einige kooperieren, verweigerte Bidens ehemaliger Arzt unter Berufung auf sein Schweigerecht die Aussage. Dieser juristische und politische Druck ist ein zentrales Ziel der Untersuchungen: Er soll den inneren Zirkel des Gegners zermürben, verunsichern und spalten. Letztlich ist die gesamte Kontroverse um den Autopen ein Mikrokosmos des Zustands der amerikanischen Politik. Sie ist weniger eine ernsthafte Untersuchung über die Amtsführung als vielmehr das jüngste Kapitel im erbitterten, persönlichen und institutionell zerstörerischen Krieg zwischen zwei Präsidenten. Es ist ein Kampf, in dem administrative Werkzeuge zu Waffen und präsidentielle Befugnisse zu Schutzschildern werden – und bei dem das Vertrauen in die Institutionen selbst zum größten Kollateralschaden wird.

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