Amerikas Zerreißprobe: Zwischen Militärparaden und Straßenschlachten zerbricht die Fassade der Nation

Illustration: KI-generiert

Eine Woche, die an die Grundfesten der amerikanischen Demokratie rüttelte. Während in Washington eine pompöse Militärparade die Stärke eines Mannes zelebrieren sollte, eskalierte an der Westküste ein Konflikt, der die tiefen Risse der Nation schonungslos offenlegte. In den Straßen von Los Angeles standen sich Demonstranten und ein massives Aufgebot von Sicherheitskräften, darunter erstmals seit Jahrzehnten gegen den Willen des Gouverneurs eingesetzte US-Marines, gegenüber. Es sind die zwei Seiten einer Medaille, die die vergangene Woche prägten: die Inszenierung einer autoritären Macht im Zentrum und die reale Anwendung dieser Macht gegen die eigene Bevölkerung an der Peripherie. Diese Ereignisse sind kein Zufall, sondern das Ergebnis einer bewussten Strategie der Eskalation und Spaltung, die das Land in eine seiner schwersten Verfassungskrisen stürzt und auch auf anderen Feldern – in der Wirtschafts-, Sozial- und Wissenschaftspolitik – verbrannte Erde hinterlässt.

Los Angeles als Epizentrum: Wie eine inszenierte Krise die Verfassung an ihre Grenzen bringt

Am Anfang stand die Angst. Eine Welle aggressiver Razzien der Einwanderungsbehörde ICE in Geschäften, Betrieben und auf offener Straße entzündete in Los Angeles den Funken des Protests. Die Wut wuchs, als Berichte über auseinandergerissene Familien und blitzschnelle Abschiebungen die Runde machten. Die darauf folgenden Demonstrationen zeigten ein doppeltes Gesicht: Tausende zogen friedlich durch die Straßen, doch nach Einbruch der Dunkelheit kippte die Stimmung wiederholt in Gewalt. Brennende, fahrerlose Autos der Firma Waymo, Barrikaden und Angriffe auf Polizisten lieferten die Bilder, die von der Trump-Regierung und ihren medialen Verbündeten gezielt verbreitet wurden, um das Narrativ einer Stadt im Chaos zu zementieren.

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Lokale Politiker wie Bürgermeisterin Karen Bass und Staatsanwalt Nathan Hochman widersprachen dieser Darstellung vehement und betonten, die Gewalt sei auf ein kleines Gebiet beschränkt und von einer Minderheit ausgegangen. Doch für die Strategie des Weißen Hauses war diese Differenzierung unerheblich. Das Bild der „Anarchie“ diente als Rechtfertigung für einen historischen Tabubruch: die Entsendung von Tausenden Soldaten der Nationalgarde und 700 aktiven US-Marines, föderalisiert und damit dem Kommando des kalifornischen Gouverneurs Gavin Newsom entzogen.

Newsom nannte den Befehl einen „schamlosen Machtmissbrauch“ und reichte Klage ein. Der Konflikt verlagerte sich auf das juristische Parkett, wo nun über die Auslegung des „Posse Comitatus Act“, der den Militäreinsatz im Inland streng reglementiert, und die Grenzen der präsidentialen Macht gestritten wird. Experten und Kritiker sehen darin einen Testlauf zur Normalisierung des Militäreinsatzes gegen die eigene Bevölkerung. Währenddessen lebten die Einwanderergemeinden in einem Zustand der „psychologischen Belagerung“; Menschen fürchteten sich, ihre Häuser zu verlassen, und die lokale Wirtschaft erlitt schweren Schaden.

Parade der Spaltung: Die Politisierung des Militärs als Waffe im Kulturkampf

Die reale Machtdemonstration in Los Angeles fand ihr symbolisches Gegenstück in Washington D.C. Die dort für den 250. Geburtstag der U.S. Army – und zufällig auch den 79. Geburtstag des Präsidenten – inszenierte Militärparade brach bewusst mit amerikanischen Traditionen. Historisch waren solche Aufmärsche selten und dienten der Feier von Kriegsenden oder der Wiederherstellung der Einheit. Trumps Parade hingegen, ein lang gehegter persönlicher Wunsch, glich in ihrer Ausrichtung auf den amtierenden Oberbefehlshaber eher den Inszenierungen autoritärer Regime.

Kritiker sahen darin weniger eine Ehrung der Armee als ein teures „Eitelkeitsprojekt für den Präsidenten“, das darauf abzielte, das Militär als persönliche Requisite zu vereinnahmen und die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren. Die Veranstaltung wurde somit zu einem Symbol der Spaltung. Während Trumps Unterstützer Patriotismus feierten, protestierten landesweit Hunderttausende unter dem Motto „No Kings“ gegen den als monarchisch empfundenen Machtmissbrauch und die Aushöhlung der Demokratie. Die Verschränkung der Parade mit der zeitgleichen Drohung, gegen Demonstranten mit „sehr großer Gewalt“ vorzugehen, und dem realen Militäreinsatz in Kalifornien schuf eine „ominöse“ Kulisse. Sie zementierte den Eindruck, dass die Streitkräfte nicht mehr als überparteiliches Symbol der Nation dienen, sondern als Werkzeug in einem innenpolitischen Kulturkampf instrumentalisiert werden.

Chinas Würgegriff und Trumps Zoll-Gambit: Der Handelskrieg, den niemand gewinnt

Auch an der Wirtschaftsfront setzte die Regierung auf Konfrontation, die sich jedoch zunehmend als strategischer Bumerang erweist. Die mit der Überzeugung, sie seien „gut und einfach zu gewinnen“, vom Zaun gebrochenen Handelskriege haben ein Klima des Chaos und der Unsicherheit geschaffen. Die Zölle auf Stahl und Aluminium, die eigentlich die heimische Industrie schützen sollten, trafen unzählige US-Unternehmen, die auf importierte Metalle angewiesen sind. Anstatt Arbeitsplätze zu schaffen, führten die Zölle zu höheren Kosten für Verbraucher, Produktionsstopps und dem Verlust von Zehntausenden Arbeitsplätzen in der verarbeitenden Industrie – ein Vielfaches dessen, was in der Stahlbranche gewonnen wurde.

Im Konflikt mit China offenbarte sich eine noch tiefere strategische Fehleinschätzung. Ein in London als historischer „Deal“ verkündeter Durchbruch entpuppte sich bei näherem Hinsehen als fragiles „Rahmenwerk“ ohne substanzielle Einigung. Während Washington auf die brachiale Gewalt von Zöllen setzte, konterte Peking mit seiner schärfsten Waffe: der nahezu vollständigen Kontrolle über den Markt für Seltene Erden. Diese für Hochtechnologie – von Smartphones über Elektroautos bis zu Kampfflugzeugen – unverzichtbaren Mineralien sind die Achillesferse des Westens. Chinas Monopol bei der Verarbeitung von über 90 Prozent dieser Rohstoffe ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen strategischen Industriepolitik, die westliche Konkurrenten systematisch aus dem Markt drängte.

Durch die Drosselung der Exporte über ein undurchsichtiges Lizenzverfahren klemmt Peking nun die industriellen Schlagadern der USA ab. Produktionsstopps bei Ford waren die Folge. Die Trump-Administration, die Peking lange unterschätzt hatte, musste erkennen, dass sie einen hohen Preis zahlt, um China an den Verhandlungstisch zurückzubringen, und ihre eigene wirtschaftliche Abhängigkeit zum Verhandlungsgegenstand gemacht hat.

Der unsichtbare Krieg: Wie der Sozialstaat und die Wissenschaft von innen demontiert werden

Neben den offenen Konfrontationen an der Heimat- und Wirtschaftsfront führte die Regierung einen weiteren, leiseren Krieg gegen die Institutionen im Inneren. Unter dem Vorwand der Effizienzsteigerung und der Förderung von Eigenverantwortung wurde eine Strategie zur systematischen Demontage des sozialen Sicherheitsnetzes vorangetrieben. Das zentrale Instrument ist die Bürokratie. Mit dem Gesetzesentwurf „One Big Beautiful Bill“ sollten die Zugangsbedingungen zu Medicaid und Obamacare durch tausende Nadelstiche („repeal by paper cut“) so erschwert werden, dass Millionen Menschen ihren Versicherungsschutz verlieren.

Das Herzstück dieser Strategie sind geplante Arbeitspflichten für Medicaid-Empfänger. Ein Pilotprojekt in Arkansas im Jahr 2018 diente als düstere Vorschau auf die Folgen: Über 18.000 Menschen verloren ihre Versicherung nicht, weil sie nicht arbeiteten, sondern weil sie an den bürokratischen Hürden eines fehlerhaften Meldesystems scheiterten. Experten des überparteilichen Congressional Budget Office schätzen, dass die Reformen zu 8 bis 11 Millionen Unversicherten mehr und über 100.000 zusätzlichen vermeidbaren Todesfällen im nächsten Jahrzehnt führen könnten.

Einen ähnlichen Angriff auf institutionelle Expertise führte Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr., ein langjähriger Impfskeptiker. Am 9. Juni entließ er das gesamte 17-köpfige Impfberatungsgremium (ACIP) der Gesundheitsbehörde CDC. Seinen Schritt begründete er mit angeblichen Interessenkonflikten und mangelnder Transparenz – Vorwürfe, die von Experten als „faktisch inkorrekt“ und „völlig unbegründet“ zurückgewiesen wurden. Führende Mediziner und Wissenschaftsorganisationen verurteilten die Aktion als „beispiellose“, „rücksichtslose“ und „zutiefst schädliche“ politische Einmischung, die darauf abzielt, evidenzbasierte Wissenschaft durch Ideologie zu ersetzen.

Erosion des Vertrauens: Vom Bruch mit Verbündeten bis zur Normalisierung der Gewalt

Das Fundament, auf dem die Woche des Chaos ruhte, war eine tiefgreifende Erosion des Vertrauens auf allen Ebenen. Dies zeigte sich im Kleinen wie im Großen. Die spektakulär zerbrochene Allianz zwischen Donald Trump und Tech-Mogul Elon Musk offenbarte die rein transaktionale Natur von Machtbeziehungen in Trumps Orbit: Loyalität ist die einzige Währung, und wer öffentlich kritisiert – wie Musk ein Steuerpaket als „widerliche Abscheulichkeit“ bezeichnete – wird fallen gelassen, egal wie viele Millionen er gespendet hat.

Auf internationaler Ebene erschütterten Berichte über einen geheimen Plan, Tausende Migranten – darunter auch Hunderte Bürger aus verbündeten europäischen Nationen – ohne Vorwarnung in das Lager Guantánamo Bay zu verlegen, die diplomatischen Beziehungen. Der Plan, der vom Weißen Haus als „Fake News“ dementiert wurde, offenbarte die Bereitschaft, langjährige Partner für innenpolitische Symbolik zu brüskieren und internationales Recht zu missachten.

Am erschreckendsten aber war die Normalisierung der politischen Gewalt. Das politisch motivierte Attentat in Minnesota, bei dem ein als Polizist getarnter Angreifer die demokratische Politikerin Melissa Hortman und ihren Mann ermordete, wurde als erschreckendes Symptom einer Nation beschrieben, in der die Rhetorik der Dehumanisierung des politischen Gegners in tödliche Realität umschlägt. Die Ereignisse der Woche malen somit das Bild einer Nation, die an mehreren Fronten gleichzeitig kämpft: auf den Straßen, vor Gericht, in den globalen Märkten und vor allem mit sich selbst. Der Ausgang dieser Zerreißprobe ist ungewiss. Der angerichtete Schaden jedoch – am Vertrauen in Institutionen, am gesellschaftlichen Frieden und an der Verfassung – ist bereits jetzt immens.

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