Amerikas doppelte Front: Wie Trumps Regierung in Los Angeles einen Konflikt inszeniert und die Demokratie auf die Probe stellt

Illustration: KI-generiert

Los Angeles/Washington – Die Lage in den Vereinigten Staaten spitzt sich zu. Während die letzten 24 Stunden eine Welle von Protesten gegen die verschärfte Einwanderungspolitik der Trump-Regierung über das ganze Land spülten, wird Los Angeles zum Epizentrum und Testfall eines weitaus größeren Konflikts. Es ist ein Konflikt, der an zwei Fronten geführt wird: auf den Straßen mit einer beispiellosen Machtdemonstration von Militär und Polizei und in der politischen Arena als erbitterter Kampf um Narrative, Recht und die Grundfesten des amerikanischen Föderalismus. Die Ereignisse sind weit mehr als eine Reaktion auf Unruhen; sie offenbaren eine bewusste Strategie der Eskalation, die darauf abzielt, ein Bild des Chaos zu zeichnen, um eine historische Ausweitung militärischer Gewalt im Inneren zu rechtfertigen und die Grenzen der präsidialen Macht neu zu definieren.

Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass der Funke von der Westküste längst auf andere Metropolen übergesprungen ist. Von San Antonio über Chicago bis nach New York und Raleigh gingen in den vergangenen Stunden Tausende auf die Straße. Doch während viele dieser Demonstrationen weitgehend kontrolliert verliefen, bleibt die Situation in Los Angeles der Brennpunkt der nationalen Auseinandersetzung. Hier prallen zwei unvereinbare Wirklichkeiten aufeinander. Auf der einen Seite steht das von Präsident Donald Trump und seinen Verbündeten gezeichnete Bild einer Stadt am Rande des Abgrunds, einer Zone der Gesetzlosigkeit, die nur durch das massive Eingreifen von Nationalgarde und Marineinfanterie zu bändigen sei. Auf der anderen Seite beschreiben lokale Politiker und Augenzeugen eine Realität, die von Angst und Verunsicherung in den Einwanderergemeinden geprägt ist, aber auch von überwiegend friedlichen Protesten, die sich gegen eine als brutal empfundene Regierungspolitik richten. Diese Kluft ist kein Zufall, sie ist das Ergebnis eines gezielten politischen Manövers, das Kalifornien zur Bühne für einen nationalen Showdown macht.

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Ein Kampf der Narrative: Zwischen brennenden Autos und überwältigender Friedfertigkeit

Die politische Auseinandersetzung wird maßgeblich über die Deutungshoheit der Bilder und Worte geführt. Präsident Trump spricht von einer „lichterloh brennenden Stadt“ und „radikalen linken Irren“, die es zu bekämpfen gelte. Sein Verteidigungsminister Pete Hegseth rechtfertigt den Truppeneinsatz mit der Bedrohung von Polizeibeamten, und das Weiße Haus warnt vor „Gesetzlosigkeit“. Dieses Narrativ wird durch die gezielte Verbreitung schlagkräftiger Bilder untermauert: brennende Autos in Downtown L.A., Steinwürfe von einer Brücke oder das Verbrennen amerikanischer Flaggen. Konservative Meinungsmacher wie der Schauspieler James Woods oder Senator Ted Cruz verstärken diese Eindrücke in den sozialen Medien und erreichen damit Millionen.

Doch die Quellen zeigen auch, wie fragil und manipulativ diese Darstellung ist. So wird aufgedeckt, dass teils Bilder aus früheren Jahren oder sogar aus Hollywood-Filmen wie „Blue Thunder“ verwendet werden, um die aktuelle Lage dramatischer erscheinen zu lassen, als sie ist. Lokale Verantwortungsträger zeichnen ein fundamental anderes Bild. Der leitende Staatsanwalt von Los Angeles, Nathan Hochman, widerspricht der Darstellung einer Stadt im Chaos vehement. Er betont, dass 99,9 Prozent der Einwohner sich nicht an den Protesten beteiligen und die Unruhen sich auf ein sehr kleines, spezifisches Gebiet beschränken. Zudem sei die Gewalt in den letzten Tagen rückläufig gewesen. Bürgermeisterin Karen Bass und über 30 weitere Bürgermeister aus der Region verurteilen die Razzien als gezielte „Angsttaktik“, die darauf ausgelegt sei, Unruhe in den Einwanderergemeinden zu säen. Das politische Ziel hinter diesem Kampf der Narrative ist offensichtlich: Die Bundesregierung benötigt die Erzählung vom unkontrollierbaren Chaos, um ihr beispielloses Vorgehen zu legitimieren, während lokale Behörden versuchen, die Lage zu deeskalieren und ihre Bürger zu schützen.

Das Kalkül der Angst: Der Alltag in den belagerten Gemeinden

Abseits der politischen Machtkämpfe hat die massive Präsenz von ICE-Agenten und Militär tiefgreifende soziale und ökonomische Folgen, die das tägliche Leben in den betroffenen Gemeinden lähmen. Die Berichte zeichnen ein Bild von allgegenwärtiger Angst, die weit über die direkt von Verhaftung bedrohten Personen hinausgeht. Es ist eine psychologische Belagerung. Bürgermeister Salvador Melendez aus Montebello fasst es so zusammen: „Physisch ist ICE nicht in der Stadt. Aber psychologisch sind sie da. Unsere Gemeinschaft hat Angst. Unsere Gemeinschaft hat Angst, das Haus zu verlassen“.

Diese Angst manifestiert sich auf vielfältige Weise. Eltern und Pädagogen durchsuchen nervös Apps, die ICE-Aktivitäten verfolgen. Schüler bleiben aus Furcht vor Razzien Abschlussfeiern fern, für die sie lange gearbeitet haben; einige kommen nicht zur Bühne, um ihre Diplome entgegenzunehmen, weil sie fürchten, selbst oder ihre Angehörigen könnten festgenommen werden. Für eine Mutter ist die Feier ihrer Tochter „bittersüß“, überschattet von der permanenten Sorge, dass ein Freund oder die Großmutter eines Freundes („abuela“) jederzeit verschleppt werden könnte. Jeder Weg zum Supermarkt, jeder Schulweg wird zu einem potenziell „letzten Moment im Leben, das man sich in diesem Land aufgebaut hat“.

Die wirtschaftlichen Folgen sind ebenso gravierend. Restaurants und Bars in den Protestzonen müssen aufgrund von Ausgangssperren schließen oder ihre Geschäftsmodelle ändern. Ein Barbesitzer in Little Tokyo berichtet, seit Beginn der Unruhen keinen Gewinn mehr gemacht zu haben. In anderen Gemeinden bleiben Arbeiter aus Angst zu Hause, was die lokale Wirtschaft beeinträchtigt. Besonders betroffen sind Branchen, die stark von Einwanderern geprägt sind, wie die Landwirtschaft im Central Valley oder die Autowaschanlagen in Los Angeles. Hier führen die Razzien zu Panik und Desorganisation, Arbeiter verstecken sich auf den Feldern, und ganze Betriebe müssen schließen, weil ihre Angestellten in Angst leben. Die Taktik der Bundesbehörden, die oft in Zivil und mit unmarkierten Fahrzeugen agieren, verstärkt das Gefühl der Willkür und des Ausgeliefertseins, wie Zeugen berichten, die Verhaftungen als „Entführungen“ wahrnehmen.

Eskalation als Strategie: Der Staat, die Straße und der Gummiknüppel

Das Vorgehen der Sicherheitskräfte vor Ort trägt maßgeblich zur Dynamik des Konflikts bei und wird von vielen Beobachtern als kalkulierte Eskalation bewertet. Die Verhängung von nächtlichen Ausgangssperren über Teile von Downtown L.A. und die massive Polizeipräsenz, inklusive berittener Einheiten, führten wiederholt zu konfrontativen Szenen. Der Einsatz von „weniger tödlicher“ Munition wie Gummigeschossen und Blendgranaten sowie das harte Vorgehen gegen verbleibende Demonstranten führten zu zahlreichen Festnahmen wegen Missachtung der Auflösungsanordnungen. Berichte über gezielten Beschuss von Journalisten und das Vorgehen gegen Reporter, die ihrer Arbeit nachgehen, deuten darauf hin, dass auch die kritische Berichterstattung eingeschüchtert werden soll.

Die Protestierenden reagieren auf diese staatliche Machtdemonstration mit unterschiedlichen Strategien. Während die Auseinandersetzungen in Downtown L.A. teils chaotisch verliefen, organisierten Aktivisten in anderen Stadtteilen wie Boyle Heights bewusst friedliche und feierliche Proteste mit Musik und Tanz. Das erklärte Ziel dieser Organisatoren war es, den medialen Darstellungen von gewalttätigen Protesten ein positives Gegenbild entgegenzusetzen und zu zeigen, dass ihre Gemeinschaft nicht aus „Kriminellen“ besteht. Anführer von Protestmärschen riefen explizit dazu auf, friedlich zu bleiben und sich von Agitatoren zu distanzieren, um der Regierung keinen Vorwand für weitere Militäreinsätze zu liefern. Diese Differenzierung zeigt den bewussten Versuch der Protestbewegung, die Kontrolle über ihr eigenes Narrativ zurückzugewinnen und der staatlich forcierten Eskalation eine Strategie der Deeskalation entgegenzusetzen. Gleichzeitig werden jedoch auch zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften, die hinter den Protesten stehen, zur Zielscheibe. Ein republikanischer Senator drohte einer etablierten Einwanderer-Organisation mit einer Untersuchung wegen „Finanzierung von Unruhen“. Die Verhaftung eines prominenten Gewerkschaftsführers und die Androhung weiterer Ermittlungen gegen Organisatoren zeigen, dass die Regierung versucht, die Infrastruktur des Widerstands systematisch zu schwächen.

Der Testfall Kalifornien: Ein juristischer und politischer Showdown

Der Konflikt hat sich längst von der Straße auf die höchste politische und juristische Ebene verlagert. Im Zentrum steht die historische Entscheidung von Präsident Trump, die Nationalgarde und Marineinfanteristen nach Kalifornien zu entsenden, ohne die Zustimmung von Gouverneur Gavin Newsom einzuholen – ein Vorgang, der seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr stattgefunden hat. Diese Handlung wird von Kritikern als direkter Angriff auf die Souveränität der Bundesstaaten und die Prinzipien des Föderalismus gewertet. Gouverneur Newsom und Bürgermeisterin Bass lehnten die Entsendung vehement ab, da sie eine Eskalation befürchteten und die lokalen Polizeikräfte als ausreichend erachteten.

Die Regierung Kaliforniens hat daraufhin Klage gegen die Bundesregierung eingereicht. Sie argumentiert, der Einsatz verstoße gegen den „Posse Comitatus Act“, ein Gesetz aus dem 19. Jahrhundert, das den Einsatz von Militär als Strafverfolgungstruppe im Inland verbietet, solange der Präsident nicht den selten genutzten „Insurrection Act“ aktiviert. Die Trump-Administration kontert scharf. Das Justizministerium bezeichnet die Klage als „krassen politischen Stunt, der amerikanische Leben gefährdet“ und argumentiert, der Präsident habe die uneingeschränkte Befugnis, Truppen zu entsenden, um Bundesgesetze durchzusetzen und Bundeseigentum sowie Personal – in diesem Fall ICE-Agenten – zu schützen.

Experten sehen in diesem Vorgehen einen beunruhigenden Trend. Es gehe um die „Normalisierung der politischen Beteiligung von Truppen und neuartige und weitreichende Interpretationen der Exekutivgewalt“. Die Handlungen werden als „Vorläufer für das, was er im Rest des Landes tun will“, beschrieben. Die Bereitschaft des Präsidenten, den „Insurrection Act“ in Betracht zu ziehen und Protestierende pauschal als „Aufständische“ zu bezeichnen, wird als ominöses Zeichen für eine mögliche weitere Aushöhlung demokratischer Normen gesehen. Kritiker warnen, dass in einer funktionierenden Demokratie Bürger nicht dreimal darüber nachdenken müssten, ob sie friedlich ihre Meinung äußern, aus Angst vor staatlicher Vergeltung.

Vom Pazifik zur Nation: Ein Flächenbrand der Polarisierung

Was in Los Angeles geschieht, bleibt nicht in Los Angeles. Der Konflikt hat eine nationale Dynamik entfaltet und legt die tiefe politische Spaltung der USA offen. Die Drohung des Weißen Hauses, dass „Gesetzlosigkeit“ in anderen Teilen des Landes auf noch mehr Entschlossenheit stoßen werde, und die Ankündigung des Präsidenten, der Einsatz in L.A. sei nur „der erste, vielleicht von vielen“, wirken als Brandbeschleuniger. Die Reaktionen anderer Bundesstaaten zeigen, wie die Ereignisse in Kalifornien als Blaupause für die Zukunft dienen.

So kündigte der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, an, ebenfalls die Nationalgarde zu mobilisieren, explizit mit dem Ziel, sicherzustellen, „dass das, was in Kalifornien passiert ist, nicht in Texas passiert“. Er positioniert Texas als „Rechtsstaat“ im Gegensatz zum vermeintlichen Chaos an der Westküste. Dieses Vorgehen wird von demokratischen Kongressabgeordneten als „Einschüchterung“ und unnötige Eskalation kritisiert. Auf der anderen Seite bereiten sich demokratisch regierte Staaten wie Pennsylvania vor. Gouverneur Josh Shapiro erklärte, er sei „vorbereitet“, falls Trump Truppen nach Philadelphia schicken sollte, bestand aber darauf, dass ein solcher Einsatz nur auf seine Anweisung und nach einem legalen Verfahren erfolgen würde – ein direkter Seitenhieb auf das Vorgehen in Kalifornien.

Diese Spaltung spiegelt sich auch in der öffentlichen Meinung wider. Eine neue Umfrage zeigt, dass die Amerikaner tief gespalten sind: Republikaner unterstützen Trumps Entscheidung zur Entsendung der Nationalgarde mit überwältigender Mehrheit, während die meisten Demokraten und eine Mehrheit der Kalifornier sie ablehnen. Der Konflikt über Einwanderung und Bundesautorität wird so zu einem weiteren Schlachtfeld im amerikanischen Kultur- und Politikkrieg, der das Land immer weiter auseinandertreibt. Die von Bürgermeisterin Bass beschriebene Lage, in einem „Niemandsland“ festzustecken, ohne eine Ahnung, wann die Politik enden wird, ist längst zu einem nationalen Zustand geworden. Die Frage ist nicht mehr, ob diese Taktiken anderswo angewendet werden, sondern wann und wie der Rest der Nation darauf reagieren wird.

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