
Mit der Entlassung des gesamten CDC-Impfstoffgremiums inszeniert sich US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. als Aufräumer, der das Vertrauen in die Medizin wiederherstellen will. Doch die Analyse seiner Handlungen und der Reaktionen aus der Wissenschaft zeichnet ein anderes Bild: den systematischen Umbau der öffentlichen Gesundheit von einer evidenzbasierten zu einer ideologisch gesteuerten Politik – mit potenziell verheerenden Folgen weit über die Grenzen der USA hinaus.
Es war ein Paukenschlag, der gezielt auf maximale Wirkung ausgelegt war. Als Robert F. Kennedy Jr., der neue US-Gesundheitsminister und seit Jahrzehnten prominentester Impfskeptiker des Landes, am 9. Juni 2025 die sofortige Entlassung aller 17 Mitglieder des zentralen Impfberatungsgremiums (ACIP) der Gesundheitsbehörde CDC verkündete, war dies weit mehr als eine personelle Umstrukturierung. Kennedy selbst, der seine Entscheidung medienwirksam in einem Gastbeitrag für das Wall Street Journal verkündete, stilisierte den Akt zu einem „Befreiungsschlag“. Sein erklärtes Ziel: das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaftlichkeit von Impfungen wiederherzustellen, indem er das Gremium von angeblich allgegenwärtigen Interessenkonflikten und dem Einfluss von „Big Pharma“ befreie.

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Doch während Kennedys Verbündete die Aktion als Öffnung der „Türen für ehrliche Wissenschaft“ feierten, löste sie in der wissenschaftlichen und medizinischen Gemeinschaft einhelliges Entsetzen aus. Führende Experten und Organisationen sehen darin keinen Akt der Befreiung, sondern eine „beispiellose“, „rücksichtslose“ und „zutiefst schädliche“ politische Einmischung. Die Entscheidung, so der Tenor, sei der vorläufige Höhepunkt einer Kampagne, die darauf abzielt, wissenschaftliche Evidenz durch eine lange gepflegte Ideologie zu ersetzen. Sie droht nicht, wie von Kennedy behauptet, Vertrauen aufzubauen, sondern es fundamental zu erschüttern und die öffentliche Gesundheit der USA um Jahrzehnte zurückzuwerfen.
Der Vorwurf des Interessenkonflikts als Vorwand
Um seine drastische Maßnahme zu legitimieren, konstruiert Kennedy das Narrativ eines korrupten, von der Industrie gesteuerten Expertengremiums. Die meisten Mitglieder, so sein unbelegter Vorwurf, würden substanzielle Zuwendungen von Pharmafirmen erhalten und seien in einem System industrieller Anreize gefangen. Ferner behauptete er, das Gremium tage im Geheimen und verletze damit Prinzipien der Transparenz. Diese Darstellung wird von den in den Quellen zitierten Fakten jedoch kaum gestützt. Experten und die Regularien des Gremiums selbst zeichnen ein gänzlich anderes Bild.
Die Mitglieder des ACIP sind unabhängige, unbezahlte Experten, die ihre Expertise für gewöhnlich vier Jahre in den Dienst der Behörde stellen. Sie werden streng auf Interessenkonflikte überprüft und dürfen beispielsweise keine Aktien von Impfstoffherstellern besitzen. Sollten potenzielle, indirekte Konflikte bestehen – etwa weil die Universität eines Mitglieds Forschungsgelder von einem Hersteller erhält – müssen diese offengelegt werden und führen zum Ausschluss von entsprechenden Abstimmungen. Kennedys zentraler „Beweis“ für angebliche Verfehlungen, eine Statistik über 97 Prozent fehlerhafter Offenlegungsformulare, stammt aus einem Bericht von 2009. Dabei handelte es sich jedoch nicht um signifikante finanzielle Interessenkonflikte, sondern um formale Fehler wie fehlende Datumsangaben oder Informationen im falschen Abschnitt des Formulars. Auch der Vorwurf der Geheimhaltung erweist sich als haltlos: Während einzelne Arbeitsgruppen sich privat beraten, sind die entscheidenden Sitzungen des Komitees, in denen Daten präsentiert, Debatten geführt und Empfehlungen abgestimmt werden, öffentlich zugänglich. Führende Mediziner bezeichnen Kennedys Anschuldigungen daher als „faktisch inkorrekt“ und „völlig unbegründet“.
Ein Bruch mit dem Wort – Ein Muster im Handeln
Die Entlassung des Gremiums erscheint weniger als spontane Reform denn als logischer Schritt in einer Kette von Handlungen, die Kennedys Amtszeit prägen. Die Aktion steht im direkten Widerspruch zu den Versprechen, die er während seiner Bestätigungsanhörungen im Senat gab. Dort hatte er Senator Bill Cassidy, einem Arzt und ranghohen Republikaner, zugesichert, das Gremium „ohne Änderungen beizubehalten“. Diese Zusage war für Cassidy und andere entscheidend, um dem als Impfgegner bekannten Kennedy trotz großer Bedenken die Zustimmung zu erteilen. Dass Kennedy nun behauptet, er habe nur versprochen, den Prozess nicht zu ändern, nicht aber die Mitglieder selbst, wird von Kritikern als Wortklauberei und gezielte Täuschung gewertet.
Dieser Bruch passt zu einem Muster, das sich seit Kennedys Amtsantritt abzeichnet. Wiederholt hat er die Expertise etablierter Gremien ignoriert, um seine Agenda durchzusetzen. So umging er das ACIP, als er im Mai die Empfehlung für Corona-Impfstoffe für gesunde Kinder und Schwangere zurücknahm – eine Entscheidung, die normalerweise dem Expertengremium obliegt. Er stoppte die Finanzierung von Forschungsprogrammen, die sich mit Impfskepsis befassen, und ließ Mittel für die Entwicklung neuer Impfstoffe gegen HIV und die Vogelgrippe streichen. Besonders alarmierend war seine Anordnung, die längst widerlegte Verbindung zwischen Masern-Impfungen und Autismus erneut untersuchen zu lassen, was laut Forschern allein durch die Beauftragung der Studie Misstrauen schürt, selbst wenn das Ergebnis negativ ausfällt. Jede dieser Entscheidungen, kulminierend in der Entlassung des ACIP, untergräbt systematisch die Institutionen, die für evidenzbasierte Gesundheitsentscheidungen zuständig sind.
Das Echo der Experten: Ein Angriff auf die Wissenschaft
Die Reaktionen aus der Wissenschaft und Politik waren schnell, scharf und bemerkenswert einig. Die American Medical Association, die größte Ärztevereinigung der USA, warf Kennedy vor, einen „transparenten Prozess zu kippen, der unzählige Leben gerettet hat“. Dr. Sean O’Leary von der American Academy of Pediatrics nannte die Entscheidung eine „unentschärfbare Katastrophe für die öffentliche Gesundheit“. Der Tenor ist klar: Anstatt Vertrauen zu schaffen, wird Kennedy Verwirrung und Misstrauen bei Eltern und Ärzten säen. Die größte Sorge ist nun, wer die entlassenen Experten ersetzen wird. Kritiker befürchten, dass Kennedy das Gremium mit Gleichgesinnten besetzen wird – Personen, die wie er selbst eine lange Geschichte der Impfskepsis haben. Ein solches Gremium wäre keine unabhängige Kontrollinstanz mehr, sondern ein reines Abnick-Organ für die ideologische Agenda des Ministers.
Diese Befürchtung wird durch die politische Reaktion untermauert. Senator Chuck Schumer, der Mehrheitsführer der Demokraten, verurteilte den Schritt als „rücksichtslos, radikal und in Verschwörung verwurzelt, nicht in Wissenschaft“. Seine Warnung, die Entscheidung sende die „abschreckende Botschaft, dass Ideologie wichtiger ist als Evidenz und Politik wichtiger als die öffentliche Gesundheit“, bringt die Kernkritik auf den Punkt. Die Entlassung des Gremiums ist somit mehr als ein Personalwechsel; sie ist ein symbolischer Akt, der die Grundfesten der amerikanischen Gesundheitspolitik verschiebt. Die Folgen könnten dramatisch sein. Ohne die fundierten Empfehlungen des ACIP gerät die Kostenübernahme für Impfungen durch Versicherungen und staatliche Programme wie Medicaid ins Wanken. Millionen Menschen könnten den Zugang zu Impfungen verlieren, was zu einem Wiederaufleben von Krankheiten führen könnte, die seit Jahrzehnten als besiegt galten. Da das ACIP zudem ein wichtiger Knotenpunkt in einem weltweiten Netzwerk von Impfkommissionen ist, die Daten und Erfahrungen austauschen, könnten die Folgen weit über die USA hinausreichen und die globale Gesundheitssicherheit gefährden.
Am Ende steht ein tiefes Paradoxon: Robert F. Kennedy Jr. hat seine politische Karriere auf der Behauptung aufgebaut, für die Wahrheit und gegen ein korruptes System zu kämpfen. Als Gesundheitsminister nutzt er nun seine Macht, um genau jene wissenschaftlichen Institutionen zu demontieren, die auf Basis von Transparenz und überprüfbarer Evidenz arbeiten. Sein erklärter Versuch, das Vertrauen wiederherzustellen, wird von der überwältigenden Mehrheit der Experten als der bisher wirkungsvollste Schlag zur Zerstörung ebenjenes Vertrauens gesehen. Der „Befreiungsschlag“ könnte sich als Pyrrhussieg erweisen, der eine Ära einläutet, in der, wie es ein Experte ausdrückte, die Gesellschaft nicht gesünder, sondern kränker wird.