
Eine Analyse über Loyalität, Täuschung und die politische Instrumentalisierung einer persönlichen Tragödie. Die Enthüllungen über den kognitiven Zustand von Joe Biden während seiner Präsidentschaft werfen ein düsteres Licht auf die Mechanismen der Macht in Washington – und offenbaren, wie der Versuch, die Demokratie zu schützen, ihr am Ende schweren Schaden zufügte.
Die politische Landschaft Washingtons ist reich an Dramen, doch die Geschichte, die sich nun in der Nachbetrachtung der Präsidentschaft von Joe Biden entfaltet, besitzt die Wucht einer antiken Tragödie. Es ist die Geschichte eines Mannes, dessen körperliche und geistige Kräfte schwinden, während die Last des mächtigsten Amtes der Welt auf ihm lastet. Vor allem aber ist es die Geschichte eines Systems – eines engmaschigen Netzwerks aus loyalen Beratern, Familienmitgliedern und Parteifunktionären –, das in einer Mischung aus Schutzinstinkt, strategischem Kalkül und Realitätsverweigerung eine Fassade aufrechterhielt, die am Ende nicht nur den Präsidenten, sondern auch das Vertrauen in die demokratischen Institutionen selbst zu erschüttern droht.
Den Zündfunken für die längst überfällige Abrechnung liefert das Enthüllungsbuch „Original Sin“ der Journalisten Jake Tapper und Alex Thompson. Gestützt auf Hunderte Interviews, vornehmlich mit Demokraten aus dem inneren Zirkel, zeichnet es das Bild eines Präsidenten, der womöglich schon bei seinem Amtsantritt der Aufgabe nicht mehr gewachsen war. Die Nachbeben dieser Veröffentlichung erschüttern die politische Klasse: Eine ehemalige Pressesprecherin bricht mit ihrer Partei und rechnet ab, während der amtierende Präsident Donald Trump mit juristisch fragwürdigen, aber politisch wirksamen Untersuchungen die Legitimität der gesamten Biden-Ära infrage stellt. Die Akte Biden ist mehr als nur die Chronik eines persönlichen Niedergangs; sie ist eine Fallstudie über die Perversion von Loyalität und die Gefahren des Schweigens in einer Demokratie.

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Hinter verschlossenen Türen: Das Protokoll des Verfalls
Die öffentliche Inszenierung des Weißen Hauses unter Joe Biden und die intern dokumentierte Realität klafften auf eine Weise auseinander, die selbst für die Standards Washingtons bemerkenswert war. Während die damalige Pressesprecherin Karine Jean-Pierre am Podium des Pressesaals routiniert Fragen zur mentalen Fitness des Präsidenten abwehrte und die Bedenken von Wählern herunterspielte, spielten sich hinter den Kulissen Szenen ab, die bei den Eingeweihten Alarm auslösten. Das Buch „Original Sin“ fungiert hier wie ein Autopsiebericht, der die Diskrepanz zwischen Schein und Sein klinisch präzise seziert.
Schon während der Kampagne 2020 waren die Anzeichen für Bidens schwindende Fähigkeiten für sein Team unübersehbar. Berater sahen sich gezwungen, ihm für Interviews mit Lokalmedien einen Teleprompter mit vorgefertigten Fragen bereitzustellen, da sie sich nicht mehr darauf verlassen konnten, dass er die Botschaft einhalten würde und seine Aufmerksamkeitsspanne extrem kurz war. Besonders entlarvend waren offenbar Aufnahmen von Zoom-Gesprächen mit Bürgern, die für Wahlwerbung genutzt werden sollten. Ein führender Demokrat beschrieb die Videos als „grauenhaft“ und konstatierte, Biden habe dem Gesprächsverlauf überhaupt nicht folgen können. Ein anderer Vertrauter, der Biden länger nicht gesehen hatte, war schockiert: „Er war wie eine andere Person. […] Das war, als würde man Opa zusehen, der nicht mehr fahren sollte“. Ein spezielles Team musste die stundenlangen Aufnahmen mühsam zu wenigen sendefähigen Minuten zusammenschneiden.
Dieser Zustand setzte sich im Weißen Haus fort. Kabinettssitzungen wurden von einem Teilnehmer als von Anfang an „schrecklich und manchmal unangenehm“ beschrieben. Biden sei auf Notizkarten und vorbereitete Antworten angewiesen gewesen. Bei entscheidenden Treffen mit Abgeordneten seiner eigenen Partei, bei denen er für sein billionenschweres Infrastrukturpaket werben sollte, hielt er weitschweifige, als „unverständlich“ und „zusammenhanglos“ charakterisierte Reden, vergaß aber den entscheidenden Appell, für das Gesetz zu stimmen. Die anwesenden Politiker, darunter die damalige Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, rätselten, ob es sich um eine strategische Auslassung oder einen Gedächtnisverlust handelte. Später soll er sogar den Namen seines Nationalen Sicherheitsberaters Jake Sullivan vergessen haben.
Die eindrücklichsten Beobachtungen stammen vielleicht vom Kongressabgeordneten Mike Quigley. Während einer Reise nach Irland im April 2023 erkannte er im Verhalten des Präsidenten schmerzlich seinen eigenen Vater wieder, der an Parkinson verstorben war. Quigley beobachtete, wie Biden durch die Energie der jubelnden Menge kurzzeitig auflebte, nur um hinter den Kulissen völlig kraftlos und abwesend zu wirken. Sein Sohn Hunter ermahnte ihn, sich auszuruhen, da er die Anstrengung nicht bewältigen könne. Für Quigley war das Bild eindeutig: Der Präsident war nicht nur gebrechlich, seine Sprache war hinter den Kulissen leise und kraftlos. Er sah einen Mann, der dringend eine Pause brauchte, aber stattdessen ein Land führte.
Der Pakt der Loyalisten: Schutzwall um einen brüchigen Präsidenten
Angesichts dieser erdrückenden Indizien stellt sich die Frage, warum das System nicht reagierte. Die Antwort liegt in einer toxischen Mischung aus panischer Angst vor Donald Trump und einer tief verwurzelten Loyalität, die zur Komplizenschaft wurde. Viele Demokraten glaubten fälschlicherweise, dass Trump nach seinen juristischen Problemen keine Chance auf eine Wiederwahl hätte, was den gefühlten Einsatz senkte. Die vorherrschende Meinung im inneren Zirkel war, dass es nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren gäbe, wenn man die Probleme des Präsidenten öffentlich machte. Er würde ohnehin der Kandidat sein, also sollte man schweigen.
Dieses Schweigen wurde aktiv orchestriert. Das Weiße Haus und die Demokratische Partei bauten einen Schutzwall um den Präsidenten. Kritische Journalisten, die das Thema ansprachen, wurden in sozialen Medien verleumdet. Als der Sonderermittler Robert Hur in seinem Bericht zu Bidens Umgang mit geheimen Dokumenten dessen Gedächtnisprobleme erwähnte, um seine Entscheidung gegen eine Anklage zu begründen, wurde er von der Partei und dem Weißen Haus als parteiischer Handlanger der Rechten diffamiert. Der Abgeordnete Dean Phillips, der frühzeitig Alarm schlug und eine Alternative zu Biden forderte, wurde vom Parteiapparat isoliert und seine Kampagne marginalisiert. Selbst Mike Quigley, der nach der desaströsen TV-Debatte gegen Trump als einer der ersten den Rücktritt Bidens forderte, wurde von einem Parteikollegen aus Illinois als „Verräter“ beschimpft. Die Kritik wurde systematisch als „Ageism“ – Altersdiskriminierung – abgetan.
Die Partei ging sogar so weit, die etablierte Vorwahl-Reihenfolge zu ändern und South Carolina an den Anfang zu setzen. Offiziell wurde dies als Stärkung schwarzer Wählerstimmen begründet, doch intern gaben Mitarbeiter des Weißen Hauses und des Democratic National Committee zu, dass die Hauptmotivation darin bestand, Biden zu helfen und potenzielle Herausforderer frühzeitig auszubremsen.
Die ethische Dimension dieses Vorgehens ist gravierend. Es ging nicht mehr nur darum, einen Parteifreund zu schützen. Es ging darum, der amerikanischen Öffentlichkeit einen Zustand zu verheimlichen, der die Amtsfähigkeit des Präsidenten direkt betraf. Ein hochrangiger Berater offenbarte gegenüber den Autoren von „Original Sin“ den erschreckenden Plan für eine zweite Amtszeit: Biden müsse nur die Wahl gewinnen und könne dann für vier Jahre von der Bildfläche verschwinden. Man müsse nur „ab und zu ein Lebenszeichen von ihm zeigen“, während nicht gewählte Mitarbeiter die eigentliche Regierungsarbeit erledigen würden. Diese Aussage, die an das makabre Szenario des Films „Weekend at Bernie’s“ erinnert, ist nichts weniger als die Beschreibung einer geplanten Täuschung des amerikanischen Volkes und einer Aushöhlung demokratischer Prinzipien. Ein Insider brachte die Machtverhältnisse auf den Punkt: „Fünf Leute regierten das Land. Und Joe Biden war bestenfalls ein leitendes Vorstandsmitglied“.
Die Abrechnung: Wenn die Fassade bricht und Loyalität zerfällt
Jede noch so sorgfältig errichtete Fassade bricht irgendwann. Für Joe Biden kam dieser Moment während der TV-Debatte gegen Donald Trump im Juni 2024. Vor den Augen von 50 Millionen Zuschauern war sein Zustand nicht mehr zu leugnen. Sein Auftritt war so desaströs, dass er für viele Demokraten, die bis dahin geschwiegen hatten, zum Weckruf wurde. Der Regisseur und Spender Rob Reiner schrie während einer Wahlparty den anwesenden Second Gentleman Doug Emhoff an: „Wir werden unsere verdammte Demokratie wegen euch verlieren!“.
Die Implosion der Kampagne führte zu tiefen Rissen innerhalb der Partei. Eine der bemerkenswertesten Figuren in diesem Nachbeben ist Karine Jean-Pierre. Jene Frau, die als Pressesprecherin monatelang die offizielle Linie des Weißen Hauses verteidigt hatte, kündigte nach der Wahlniederlage ihren Austritt aus der Demokratischen Partei an, um als Unabhängige ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „Independent: A Look Inside a Broken White House“ zu schreiben. Sie spricht nun von einem „Verrat“ der Demokratischen Partei, die Biden nach der Debatte fallen gelassen habe. Sie habe noch nie erlebt, dass eine Partei ein solches „Exekutionskommando“ gegen einen der ihren bilde, der ein „wahrer Patriot“ sei. Dieser radikale Haltungswechsel wird von ehemaligen Kollegen als Opportunismus kritisiert, offenbart aber vor allem die Zerrissenheit und die Suche nach Schuldigen in einer Partei, die mit den Konsequenzen ihres eigenen Handelns ringt.
Die Autoren von „Original Sin“ bemühen den Vergleich mit Shakespeares König Lear, einem Herrscher, der durch Alter, Stolz und Schmeicheleien zugrunde geht. Doch sie stellen selbst fest, dass die Analogie hinkt. Lear war zu Beginn des Stückes bei klarem Verstand und somit für sein Schicksal moralisch verantwortlich. Die Hinweise, dass Bidens Verfall schon vor seiner Präsidentschaft begann, etwa nach dem Tod seines Sohnes Beau 2015, verschieben die Verantwortung. Wenn Biden nicht mehr voll handlungsfähig war, als er sich zur Wahl stellte, dann fällt die Schuld zu einem erheblichen Teil auf seine „Enabler“ – jene, die ihn trotz besseren Wissens ins Amt drängten und dort hielten.
Trumps Ernte: Die rücksichtslose Instrumentalisierung der Krise
In das durch die Selbstbeschädigung der Demokraten entstandene Vakuum stößt nun Donald Trump mit voller Wucht. Er hat eine umfassende Untersuchung angeordnet, die klären soll, ob Joe Biden während seiner Amtszeit seinen kognitiven Verfall vertuscht hat. Trumps Vorstoß ist ein politisches Manöver, das darauf abzielt, die gesamte Präsidentschaft seines Vorgängers zu delegitimieren. Im Zentrum seiner Attacke steht die Verwendung des sogenannten Autopens, einer Maschine zur automatischen Signatur von Dokumenten. Trump behauptet, Bidens Mitarbeiter hätten diese Maschine missbraucht, um ohne dessen Wissen und Zustimmung zu handeln, was Tausende von Gesetzen, Erlassen und Begnadigungen ungültig machen könnte.
Juristisch ist diese Argumentation haltlos. Präsidenten nutzen den Autopen seit Langem. Trump selbst hat seine Verwendung für Routinekorrespondenz zugegeben. Bereits 2005 hatte das Justizministerium unter George W. Bush in einem Rechtsgutachten festgestellt, dass ein Präsident seine Unterschrift nicht persönlich leisten muss, sondern einen Untergebenen damit beauftragen kann. Doch die politische Sprengkraft dieser Vorwürfe ist enorm. Trump nutzt die durch die Enthüllungen von „Original Sin“ und die jahrelange Geheimhaltung der Demokraten geschaffene Glaubwürdigkeitslücke gnadenlos aus. Er muss die Vorwürfe nicht beweisen; es reicht, den Zweifel zu säen, dass im Weißen Haus eine Verschwörung am Werk war, die den Wählern den wahren Zustand des Präsidenten vorenthielt.
Am Ende bleibt eine verstörende Bilanz. Die „Erbsünde“ („Original Sin“), von der die Buchtitel und Quellen sprechen, war nicht allein Joe Bidens tragischer Entschluss, trotz seines Zustandes für eine zweite Amtszeit zu kandidieren. Es war die kollektive Sünde eines politischen Apparats, der aus Angst vor dem politischen Gegner bereit war, die eigene Wählerschaft zu täuschen und die Grundfesten der demokratischen Rechenschaftspflicht zu untergraben. Der Versuch, die Demokratie vor Donald Trump zu retten, indem man die Wahrheit über den eigenen Kandidaten verschwieg, hat dem Vertrauen in ebendiese Demokratie möglicherweise einen tieferen und nachhaltigeren Schaden zugefügt. Das Schweigen der Loyalisten hat ein Erbe des Misstrauens hinterlassen – ein perfekter Nährboden für die Verschwörungstheorien und die politische Rache, die nun die amerikanische Politik vergiften.