Captain Canadas Drahtseilakt: Mark Carney navigiert eine Nation im Würgegriff von Trumps Amerika

Ein politisches Erdbeben erschütterte Kanada, als Mark Carney, ein ehemaliger Zentralbanker und politischer Neuling, die Liberalen zu einem unwahrscheinlichen Wahlsieg führte. Nun steht er vor der Herkulesaufgabe, das Land durch eine Ära tiefgreifender Unsicherheit zu steuern, geprägt von einem aggressiven Nachbarn im Süden und der dringenden Notwendigkeit, Kanadas Platz in einer sich rasant wandelnden Welt neu zu definieren. Carneys Amtsantritt ist mehr als ein Regierungswechsel; es ist ein Stresstest für die kanadische Identität, Souveränität und Wirtschaftskraft, dessen Ausgang die Welt mit angehaltenem Atem verfolgt.

Der überraschende Triumph Carneys und seiner Liberalen Partei, die noch wenige Monate vor der Wahl hoffnungslos in den Umfragen zurücklagen, ist ein Phänomen, das sich ohne den Faktor Donald Trump kaum erklären lässt. Die aggressiven Töne aus Washington – Trumps wiederholte Drohungen, Kanada zum 51. Bundesstaat der USA zu machen, gepaart mit empfindlichen Strafzöllen auf kanadische Schlüsselindustrien wie Stahl, Aluminium und Automobile – wirkten wie ein Katalysator für ein neues kanadisches Nationalgefühl. Diese „patriotische Welle“, wie es Beobachter nannten, überschwemmte andere Wahlkampfthemen und stellte die Frage in den Vordergrund, wem die Kanadier am ehesten zutrauten, dem Druck aus Washington standzuhalten.

Trumps langer Schatten: Wie Amerikas Präsident zum unfreiwilligen Wahlhelfer wurde

Pierre Poilievre, der konservative Herausforderer, der sich zeitweise bereits als sicherer nächster Premierminister wähnte, sah sich plötzlich mit dem Vorwurf konfrontiert, dem Trumpismus rhetorisch zu nahe zu stehen. Seine Versuche, sich vom amerikanischen Präsidenten zu distanzieren, wirkten auf viele Wähler wenig überzeugend. Trumps fortgesetzte Einmischungsversuche, selbst am Wahltag, als er den Kanadiern quasi empfahl, für einen Mann zu stimmen, der ihr Land den USA einverleiben wolle, dürften Poilievres Chancen weiter geschmälert haben. Die Ironie der Geschichte: Ausgerechnet der Mann, der Kanadas Souveränität offen infrage stellte, trug maßgeblich dazu bei, einen Premier ins Amt zu heben, der sich eben diese Souveränität auf die Fahnen geschrieben hat.

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Dieser externe Druck fiel zusammen mit einer internen Neuausrichtung der Liberalen. Nach Jahren unter Justin Trudeau, dessen Popularität schwand und dessen Regierung mit Kritik an Maßnahmen wie der CO2-Steuer konfrontiert war, wagte die Partei einen Neuanfang. Mit Mark Carney setzte sie auf einen international erfahrenen Finanzexperten, dessen Reputation als ehemaliger Chef der Bank of Canada und der Bank of England inmitten eines von Trump angezettelten Handelskrieges als Stabilitätsanker wahrgenommen wurde. Trudeau selbst räumte schließlich das Feld, und Carney, der zuvor nie ein gewähltes Amt bekleidet hatte, wurde zum Hoffnungsträger. Doch die innenpolitische Gemengelage bleibt fragil. Während Trumps Rhetorik eine patriotische Einheit zu schmieden schien, brodeln unter der Oberfläche weiterhin Spannungen. Besonders in der ölreichen Provinz Alberta, die sich von der Bundesregierung in Ottawa gegängelt fühlt, werden separatistische Tendenzen lauter. Premier Danielle Smith droht mit einem Unabhängigkeitsreferendum, sollte Ottawa seine als wirtschaftsfeindlich empfundene Politik nicht ändern – ein weiterer Riss im Gefüge der Nation, der durch die von Trump ausgelöste Wirtschaftskrise eher vertieft als gekittet wird.

Diplomatie im Minenfeld: Carneys heikler Balanceakt mit Washington

Die erste Bewährungsprobe für Carney ließ nicht lange auf sich warten: das Antrittsgespräch im Oval Office. Beobachter weltweit verfolgten gespannt, wie der kanadische Premier dem als unberechenbar geltenden US-Präsidenten begegnen würde. Carney wählte eine Strategie der dosierten Konfrontation, gepaart mit unerwarteter Schmeichelei. Während er Trumps Annexionsfantasien mit einem klaren „Kanada steht nicht zum Verkauf, niemals“ eine Absage erteilte, zollte er ihm gleichzeitig Respekt als „transformationalen Präsidenten“. Dieser Ansatz, der darauf abzielte, öffentliche Eklats zu vermeiden, ohne inhaltlich einzuknicken, könnte Modellcharakter für andere Staats- und Regierungschefs im Umgang mit Trump haben.

Carneys Stil – technokratisch, präzise und gründlich vorbereitet – steht im scharfen Kontrast zu Trumps impulsiver Art, aber auch zum Charisma seines Vorgängers Trudeau. Trump selbst schien von Carney zumindest angetan, bezeichnete ihn als „sehr netten Gentleman“ und deutete an, ihn besser zu mögen als Trudeau, den er wiederholt als „Gouverneur Trudeau“ verspottet hatte. Doch konkrete Zugeständnisse, etwa bei den Zöllen, blieben aus. Trump machte unmissverständlich klar, dass er von kanadischen Autos, Stahl oder Aluminium nichts halte und an den Abgaben festhalten werde. Die Verhandlungen, so Carney, würden komplex und von „Zickzack“-Bewegungen geprägt sein. Es ist ein Tanz auf dem Vulkan, bei dem jeder Fehltritt gravierende Folgen haben kann, und das bei einem Partner, dessen Gunst so wankelmütig ist wie seine Twitter-Tiraden.

Auf zu neuen Ufern: Kanadas Suche nach globaler Eigenständigkeit

Die Erschütterungen im Verhältnis zum traditionell wichtigsten Partner haben in Ottawa ein Umdenken angestoßen. „Unsere alte Beziehung, basierend auf stetig zunehmender Integration, ist vorbei“, konstatierte Carney unmissverständlich. Kanada, so die neue Maxime, müsse seine Rolle in der Welt jenseits der amerikanischen Umklammerung neu definieren. Erste Schritte sind erkennbar: Carneys demonstrative Besuche in London und Paris noch vor seinem Antrittsbesuch in Washington signalisierten eine verstärkte Hinwendung zu Europa. Ein Freihandelsabkommen mit Großbritannien steht auf der Agenda, ein ähnliches mit der EU existiert bereits seit 2017, und auch die NATO-Verpflichtungen sollen ernster genommen werden.

Innenpolitisch plant die Regierung einen „Ost-West-Korridor“, um die nationale Infrastruktur zu stärken und die Abhängigkeit vom Handel nach Süden zu verringern. Große Rohstoffprojekte sollen beschleunigt und vereinfacht werden, um Kanada als „Energiegroßmacht“ zu positionieren – sowohl im konventionellen als auch im sauberen Sektor. Diese Diversifizierungsstrategie ist jedoch kein Selbstläufer. Die Beziehungen zu anderen Weltmächten wie China und Indien sind zerrüttet, und die kanadische Wirtschaft leidet unter Produktivitätsmangel und hoher Verschuldung der Privathaushalte. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf fällt im Vergleich zu den USA weiter zurück. Trumps Politik zwingt Kanada also zu einer schmerzhaften, aber vielleicht notwendigen Selbstfindung, deren Erfolg jedoch von vielen Faktoren abhängt – nicht zuletzt von der Fähigkeit, interne Handelsbarrieren zwischen den Provinzen abzubauen, die den nationalen Zusammenhalt ebenso gefährden wie externe Schocks.

Königliche Symbolpolitik und die Quebecer Frage

In diesem angespannten Klima griff Carney zu einer ungewöhnlichen symbolischen Geste: König Charles III., das offizielle Staatsoberhaupt Kanadas, wurde eingeladen, die Thronrede zur Eröffnung des neuen Parlaments zu halten – ein Ereignis, das es seit 1977 nicht mehr gegeben hatte. Carney inszenierte dies als klare Botschaft der Souveränität gegenüber den USA. Doch die Geste ist nicht unumstritten. Insbesondere in der französischsprachigen Provinz Quebec, wo die Bindungen an die britische Krone traditionell kritisch gesehen werden, stieß die Einladung auf Skepsis. Carneys Erklärungsversuche, wie die Präsenz des britischen Monarchen die kanadische Eigenständigkeit unterstreichen solle, wirkten bisweilen unbeholfen. Es ist ein weiteres Beispiel für die komplexen Balanceakte, die der neue Premier vollführen muss: die Stärkung des Nationalgefühls nach außen, ohne die vielfältigen internen Empfindlichkeiten und historischen Bruchlinien zu ignorieren.

Mark Carney, der als „Captain Canada“ angetreten ist, um sein Land durch stürmische Zeiten zu führen, hat keine Schonfrist. Die Erwartungen sind immens, die Herausforderungen gewaltig. Seine Strategie, eine Mischung aus diplomatischer Standfestigkeit, wirtschaftlichem Pragmatismus und einer vorsichtigen globalen Neuausrichtung, wird nun auf die Probe gestellt. Die Welt, so formulierte es eine Kommentatorin, beobachte Kanada „wie eine globale Laborratte“. Die kommenden Monate und Jahre werden zeigen, ob Carneys kühler Kopf und seine wirtschaftliche Expertise ausreichen, um die Interessen Kanadas zu wahren und dem Land eine neue, selbstbewusste Rolle auf der Weltbühne zu sichern. Die langfristigen Auswirkungen dieser Ära auf die kanadische Identität und seine Westbindung sind noch nicht abzusehen, doch eines ist sicher: Die Präsidentschaft Donald Trumps hat Kanada nachhaltig verändert und zu einer fundamentalen Neubewertung seiner selbst gezwungen.

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