Der durchbrochene Schutzwall: Protokoll eines Traumas an der Brown University

Illustration: KI-generiert

Es ist jene spezifische Zeit im Jahr, in der die Luft an amerikanischen Elite-Universitäten normalerweise vor intellektueller Elektrizität knistert. Die „Exam Week“, die Prüfungswoche, ist ein Ritual des akademischen Kalenders, ein Moment der verdichteten Ambition. An der Brown University in Providence, Rhode Island, war dieser Samstag im Dezember dazu bestimmt, im Zeichen von Immanuel Kant und volkswirtschaftlichen Prinzipien zu stehen. Der Campus, eingebettet in ein historisches Viertel voller eleganter viktorianischer Häuser und geschmückt mit Weihnachtskränzen, wirkte wie eine Bastion der Ordnung gegen das Chaos der Welt. Studenten holten sich Kaffee, schrieben letzte Essays oder besorgten Eis, während die Dämmerung über den „College Hill“ hereinbrach.

Doch um kurz nach 16 Uhr zerbrach diese sorgsam kuratierte Normalität. Was als routinemäßige akademische Anspannung begann, mutierte innerhalb von Sekunden zu einem Szenario des absoluten Horrors. Die Realität des amerikanischen Waffenwahnsinns, die man an Orten der geistigen Eliten gerne als theoretisches Problem debattiert, materialisierte sich physisch und brutal. Ein Mann in schwarzer Kleidung durchbrach den unsichtbaren Schutzwall der Universität, verwandelte Hörsäle in Tatorte und zwang eine ganze Gemeinschaft in die Knie. Dies ist nicht nur die Chronik einer weiteren Schießerei; es ist das Protokoll eines Zusammenbruchs an einem Ort, der sich sicher wähnte, weil er glaubte, dass Geist über Gewalt triumphieren könnte.

US Politik Deep Dive: Der Podcast mit Alana & Ben

Anatomie des Angriffs – 16:00 Uhr im Auditorium 166

Das Epizentrum dieses Bebens lag im Gebäude „Barus and Holley“, einem siebenstöckigen Komplex, der die Fakultäten für Ingenieurwesen und Physik beherbergt. Im Auditorium 166 im Erdgeschoss hielt Joseph Oduro, ein 21-jähriger Teaching Assistant, eine Wiederholungsstunde für den Kurs „Principles of Economics“ ab. Es war der letzte Schliff vor der Abschlussprüfung am Dienstag für einen der größten Einführungskurse der Universität, in dem fast 500 Studenten eingeschrieben sind, die meisten davon Erstsemester.

Die Sitzung näherte sich ihrem Ende. Oduro hatte gerade Dankesworte an seine Studenten gerichtet, als die Atmosphäre kippte. „Plötzlich hörten wir Schüsse und schreiende Menschen auf dem Flur“, erinnerte sich Oduro später. Die Zeitspanne zwischen dem akustischen Signal der Gefahr und ihrer visuellen Manifestation betrug kaum drei Sekunden. Dann stand er im Raum: ein maskierter Mann, bewaffnet mit einem Gewehr, das Oduro als „das längste, das ich je in meinem Leben gesehen habe“ beschrieb.

Was folgte, war die mechanische Exekution von Gewalt in einem Raum, der für den Diskurs gebaut wurde. Der Täter schrie unverständliche Worte und eröffnete das Feuer. Über 40 Schüsse aus einer 9-Millimeter-Waffe hallten durch den Hörsaal, der mit seinen ansteigenden Sitzreihen an ein Stadion erinnert. Chaos brach aus. Während etwa 20 Studenten durch die Seitentüren fliehen konnten, saßen jene in den mittleren Reihen in einer tödlichen Falle. Sie warfen sich auf den Boden, kauerten unter Tischen, stellten sich tot.

Inmitten dieser Hölle blitzte Menschlichkeit auf, jener Instinkt, der in Statistiken oft untergeht. Spencer Yang, ein erst 18-jähriger Studienanfänger, wurde selbst ins Bein getroffen. Doch anstatt nur an seine eigene Rettung zu denken, kümmerte er sich um einen schwerer verletzten Kommilitonen. „Um ihn bei Bewusstsein zu halten, habe ich einfach angefangen, mit ihm zu reden, damit er nicht die Augen schließt und einschläft“, berichtete Yang später aus dem Krankenhaus. Er reichte ihm Wasser, während um sie herum die Welt in Scherben fiel. Auch Oduro, der Kursleiter, hielt die Hand einer angeschossenen Studentin und versuchte, ihr den Schmerz mental abzunehmen. Es sind diese Momente der Solidarität, die inmitten der sinnlosen Zerstörung – zwei Tote, neun Verletzte – wie Leuchtfeuer wirken.

„Generation Lockdown“ – Wenn das Unmögliche wieder passiert

Die Schießerei an der Brown University offenbart eine tiefere, fast zynische Tragik, die spezifisch für die heutige amerikanische Jugend ist. Wir blicken auf eine Generation, für die „Shelter-in-Place“ kein Ausnahmezustand, sondern eine konditionierte Reaktion ist. Für einige Studenten an diesem Tag war es nicht das erste Mal, dass sie dem Tod durch eine Schusswaffe ins Auge blicken mussten. Der Campus, der eigentlich ein Ort des Neuanfangs und der intellektuellen Reife sein sollte, wurde zum Schauplatz eines grausamen Déjà-vu.

Mia Tretta, eine Junior-Studentin, hatte sich Brown unter anderem wegen des intimen, sicheren Gefühls ausgesucht. Sie wollte den Campus als Zufluchtsort, nachdem ihre Unschuld 2019 zerstört worden war, als sie bei einer Schießerei an der Saugus High School in Kalifornien in den Unterleib geschossen wurde. Am Samstag plante sie ursprünglich, genau in jenem Gebäude zu lernen, in dem der Angriff stattfand, entschied sich aber wegen Müdigkeit dagegen. „Die Leute denken immer: ‚Mir wird das nie passieren‘“, sagte sie. „Und bis ich in meiner Schule angeschossen wurde, dachte ich das auch“.

Noch verstörender ist die Erfahrung von Zoe Weissman. Als Zwölfjährige war sie Zeugin des Massakers an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida. Nun, als Studentin im zweiten Jahr, saß sie verbarrikadiert in ihrem Wohnheimzimmer, während draußen erneut Sirenen heulten. Ihre Worte fassen das Trauma einer ganzen Generation zusammen, der die Mathematik der Wahrscheinlichkeit keinen Trost mehr spendet: „Das Einzige, was mir Trost gab, war der Gedanke: Statistisch gesehen ist es praktisch unmöglich, dass mir das je wieder passiert“, sagte sie. „Und offensichtlich kommen wir an einen Punkt, an dem das niemand mehr sagen kann“.

Dies ist der psychologische Bruch, den der Angriff auf Brown markiert. Die Universität als Schutzraum, als elitäre Blase fernab der gesellschaftlichen Gewalt, hat sich als Illusion erwiesen. Selbst die besten Sicherheitsprotokolle und die teuersten Studiengebühren können die amerikanische Realität nicht aussperren.

Nebel des Krieges – Chaos, Fehlinformationen und die Belagerung

Während im Gebäude die Schüsse verhallten, verwandelte sich der umliegende Stadtteil in eine Szenerie, die ein Anwohner treffend als „surreal“ bezeichnete. Die elegante East Side von Providence, normalerweise ein pulsierendes Zentrum studentischen Lebens, wurde zu einer militarisierten Zone. Über 400 Gesetzeshüter, gepanzerte Fahrzeuge und Hubschrauber, die ihre Kreise zogen, dominierten das Straßenbild. Polizeieinheiten mit Helmen und Langwaffen durchkämmten in Vierergruppen die Gassen und leuchteten in geparkte Autos, auf der Jagd nach einem Phantom.

Für die Studenten begann eine stundenlange Odyssee der Ungewissheit. Chiang-Heng Chien, ein Doktorand, kauerte mit anderen in einem dunklen Labor unter den Tischen, nur einen Block vom Tatort entfernt. Andere suchten Schutz im Keller eines Teeladens oder verbarrikadierten sich in ihren Wohnheimen, die Augen starr auf ihre Smartphones gerichtet.

In diesem Vakuum der Angst blühte die Desinformation. In einer Ära, in der Nachrichten schneller reisen als die Wahrheit, wurde das Chaos durch falsche Signale verstärkt. Die Universität selbst versendete fehlerhafte Alarme, meldete fälschlicherweise, ein Verdächtiger sei gefasst, nur um dies kurz darauf zu widerrufen. Gerüchte über weitere Schüsse in der Governor Street machten die Runde und mussten später dementiert werden.

Auch die höchste politische Ebene trug zur Verwirrung bei. Donald Trump verkündete auf seiner Plattform Truth Social voreilig, der Schütze sei gefasst worden – eine Falschmeldung, die er Minuten später zurücknehmen musste. Es ist symptomatisch für eine Gesellschaft, die selbst in Momenten der Krise den Reflex zur sofortigen, ungeprüften Nachrichtenaussendung nicht unterdrücken kann. Die Eltern der Studenten, weit entfernt und hilflos, durchforsteten verzweifelt Facebook-Gruppen nach Lebenszeichen, während ihre Kinder in verdunkelten Räumen ausharrten und versuchten, aus Textnachrichtenfragmente der Wahrheit zusammenzusetzen.

Die Jagd und der „Person of Interest“

Der Täter, der dieses Chaos ausgelöst hatte, war zunächst wie ein Geist verschwunden. Videoaufnahmen zeigten lediglich eine männliche Gestalt in dunkler Kleidung, die das Gebäude zur Hope Street hin verließ und in die Nacht entkam. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, er drehte der Kamera den Rücken zu. Diese gesichtslose Bedrohung hielt die Stadt Providence bis tief in die Nacht in Atem. Bürgermeister Brett Smiley warnte: „Jede Minute zählt“.

Die Auflösung – oder zumindest eine vorläufige Entwarnung – kam erst am Sonntagmorgen. In einem Hampton Inn Hotel in Coventry, Rhode Island, etwa 20 Meilen vom Campus entfernt, griffen lokale und föderale Einheiten zu. Ein Mann in den 30ern wurde als „Person of Interest“ festgenommen. Die Behörden hielten sich mit Details bedeckt, bestätigten jedoch, dass sie nach keiner weiteren Person suchten.

Interessant ist hierbei die Wortwahl der Polizei: Man spricht von einer „Person of Interest“, nicht formell von einem Verdächtigen oder Täter, obwohl keine andere Fahndung läuft. Es wurden zwar Magazine gefunden, aber bis zum Sonntagmorgen keine Schusswaffe. Das Motiv bleibt ein schwarzes Loch. War es ein gezielter Angriff auf die Institution? Eine persönliche Rache? Oder die willkürliche Entladung eines gestörten Geistes? Die Ermittler stehen erst am Anfang, Beweise zu sammeln und Durchsuchungsbefehle zu tippen, wie Polizeichef Oscar Perez betonte. Die Tatsache, dass die Außentüren des Gebäudes aufgrund der Prüfungen unverschlossen waren, wirft zudem Fragen zur Sicherheitspolitik auf, die in den kommenden Wochen zweifellos lautstark debattiert werden.

Kontextualisierung – Eine Universität im politischen Kreuzfeuer

Der Angriff trifft die Brown University in einem Moment historischer Verletzlichkeit. Die Institution, gegründet 1764 und stolzes Mitglied der Ivy League, definiert sich über ihre Offenheit. Das berühmte „Open Curriculum“ symbolisiert die geistige Freiheit, und architektonisch manifestiert sich dies in einem Campus, der nicht durch Zäune von der Stadt abgetrennt ist. „Diese Offenheit mag dem Schützen geholfen haben, vom Tatort zu entkommen“, mutmaßen Beobachter nun. Es ist die tragische Ironie einer freien Gesellschaft: Die architektonischen Merkmale, die den Austausch fördern sollen, werden im Fadenkreuz der Gewalt zu Sicherheitsrisiken.

Doch die Universität stand bereits vor den Schüssen unter Belagerung – politisch. Im vergangenen Jahr war Brown ein primäres Ziel der Trump-Administration, die drohte, über 500 Millionen Dollar an Forschungsgeldern einzufrieren. Der Vorwurf: Die Universität lasse Antisemitismus während pro-palästinensischer Proteste gedeihen. Zwar wurde eine Einigung erzielt, doch als das Weiße Haus im Oktober verlangte, die Universität möge ihre Ausrichtung an den Prioritäten der Regierung orientieren, lehnte Präsidentin Christina Paxson dies als Verrat an den Kernwerten ab.

Brown ist bekannt als Magnet für freigeistige Studenten und als Zentrum für politischen Aktivismus. In diesem Kontext wirkt die physische Gewalt wie eine Eskalation der ideologischen Kämpfe, die bereits tobten. Senator Chris Murphy aus dem benachbarten Connecticut äußerte sich am Sonntag düster über die Aussichten auf politische Konsequenzen. Unter der Trump-Administration seien die Chancen auf strengere Waffengesetze „gering“, da die Republikaner sich nicht von der Waffenlobby lösen würden. Die Universität steht somit im Kreuzfeuer: physisch durch einen Schützen und politisch durch eine Regierung, die den akademischen Schutzraum von einer anderen Seite attackiert.

Der Tag danach – Stille und Solidarität

Am Sonntag, nachdem der Shelter-in-Place-Befehl aufgehoben war, bot sich auf dem Campus ein Bild der Erschöpfung und der Trauer. Die Universität zog die einzig logische Konsequenz und sagte alle verbleibenden Kurse und Prüfungen für das Semester ab. „Lernen und Prüfungen sind kurzfristig erheblich behindert“, schrieb Provost Francis J. Doyle III in einer nüchternen, aber notwendigen Kapitulation vor der Realität. Die Studenten wurden ermutigt, den Campus zu verlassen und nach Hause zu gehen.

In der Stille nach dem Sturm zeigten sich jedoch auch kleine Gesten der Menschlichkeit, die versuchen, die Risse zu kitten. Andrea Capotosto, eine Mitarbeiterin der School of Public Health, stand vor der Mensa und bot „Free Mom Hugs“ an – kostenlose Umarmungen. Ein stetiger Strom von Studenten nahm das Angebot an, ein physischer Beweis für das immense Bedürfnis nach Trost. „Ich denke einfach an meine Tochter“, sagte sie.

Die Bilanz dieses Wochenendes ist verheerend: Zwei tote Studenten, neun Verletzte, von denen sich die meisten glücklicherweise in stabilem Zustand befinden. Doch die unsichtbaren Wunden werden länger brauchen, um zu heilen. Bürgermeister Smiley fasste es treffend zusammen, als er sagte: „Vielleicht wussten wir intellektuell, dass es überall passieren kann, auch hier. Aber das ist nicht dasselbe, wie wenn es tatsächlich in unserer Gemeinschaft passiert“. Die intellektuelle Vorwegnahme der Katastrophe schützt nicht vor dem Schmerz ihrer Realität.

Es bleibt das Bild eines Campus, der seine Unschuld, oder zumindest den Rest davon, verloren hat. Brown University, der Ort ohne Zäune, muss sich nun fragen, wie viel Offenheit in einer Welt möglich ist, die entschlossen scheint, jede Tür einzutreten, die nicht verriegelt ist.

Nach oben scrollen