Der goldene Käfig der Veteranen: Wie Amerikas Versorgungssystem an seiner eigenen Großzügigkeit erstickt

Illustration: KI-generiert

Es ist eines der gewaltigsten Paradoxa der modernen amerikanischen Sozialpolitik: Während das Department of Veterans Affairs (VA) Steuergelder in einer Dimension ausschüttet, die das Budget der gesamten US-Army für den operativen Betrieb um rund 8 Milliarden Dollar übersteigt, kämpft dieselbe Institution an ihren medizinischen Frontlinien mit einem technologischen und administrativen Kollaps, der Menschenleben kostet. Wir blicken auf einen Giganten, der finanziell überfüttert, aber organisch krank ist. Das System, einst als Sicherheitsnetz für die arbeitsunfähigen Verwundeten des Zweiten Weltkriegs geknüpft, hat sich in eine unkontrollierbare Maschinerie verwandelt. Die Verwaltung des Mangels wird mit einer gefährlichen Mischung aus Inkompetenz und politischem Opportunismus betrieben, während Krankheit oft höher belohnt wird als Genesung.

Wer verstehen will, warum die Veteranenversorgung in den USA an einem kritischen Wendepunkt steht, muss den Blick von den patriotischen Sonntagsreden abwenden und tief in die Eingeweide einer Bürokratie schauen, die sich in einem fatalen Zangengriff befindet. Auf der einen Seite steht ein explodierendes Entschädigungssystem, das durch perverse Anreize und mangelnde Kontrolle fast schon zum Missbrauch einlädt. Auf der anderen Seite sehen wir eine medizinische Infrastruktur, die durch eine desaströse IT-Modernisierung und geplante Massenentlassungen an den Rand der Handlungsfähigkeit getrieben wird.

Vom Sicherheitsnetz zum lückenhaften Goldesel

Ursprünglich war der Deal einfach und moralisch integer: Wer im Dienst für das Vaterland seine Arbeitskraft einbüßt, soll nicht in Armut fallen. Doch diese Logik hat sich in den letzten Jahrzehnten fast unbemerkt, aber radikal verschoben. Heute arbeiten die meisten Veteranen, die Invaliditätsleistungen beziehen, in Vollzeitjobs; im Jahr 2023 meldeten mehr als 100.000 behinderte Veteranen ein Einkommen von 250.000 Dollar oder mehr. Die Kompensation ist nicht mehr Einkommensersatz, sondern ein steuerfreies Zusatzeinkommen, das oft lebenslang fließt.

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Diese Verschiebung wäre an sich noch kein Skandal, wäre da nicht die Art und Weise, wie diese Ansprüche mittlerweile generiert und bewertet werden. Das moderne VA-System gleicht einem Menü, auf dem jede körperliche Unzulänglichkeit ein Preisschild trägt. Je mehr man bestellt, desto lukrativer wird das Endresultat. Das Phänomen des Claim Stacking – das Anhäufen von Diagnosen – ist zur Norm geworden. Während Veteranen im Jahr 2001 durchschnittlich 2,5 Gebrechen geltend machten, sind es heute etwa sieben. Es ist inzwischen üblich, dass Anträge mit zwanzig oder mehr einzelnen Beschwerden eingereicht werden.

Die Absurdität dieses Systems offenbart sich im direkten Vergleich der Bewertungen. Ein Veteran, der im Schlaf eine Atemmaske wegen Apnoe tragen muss, wird oft als zu 50 Prozent invalide eingestuft und erhält dafür über 1.100 Dollar monatlich. Ein Soldat, dem im Gefecht der Unterschenkel amputiert wurde, erhält oft nur eine Bewertung von 40 Prozent. Hier offenbart sich eine moralische Schieflage: Das System belohnt die Diagnose von Volkskrankheiten, die oft eher dem Alter oder dem Lebensstil geschuldet sind, höher als die brutalen Opfer des Krieges.

Die Industrie der Diagnose-Optimierung

Dieser Strukturfehler hat eine ganze Schattenindustrie hervorgebracht. Sogenannte Claims Sharks – unregulierte Beraterfirmen – und Influencer auf Social Media haben erkannt, dass der Zugang zu den VA-Milliarden weniger eine Frage der medizinischen Notwendigkeit als vielmehr der richtigen Formulierung ist. In YouTube-Videos mit reißerischen Titeln wie „Tinnitus ist eine Goldgrube“ wird Veteranen erklärt, wie sie Symptome so beschreiben, dass die Bewilligung fast automatisch erfolgt – und tatsächlich hat sich die Zahl der Tinnitus-Fälle seit 2001 verzwanzigfacht.

Das System macht es ihnen leicht. Das Prinzip des Benefit of the Doubt – im Zweifel für den Veteranen – ist ehrenwert gemeint, öffnet aber Tür und Tor für Betrug, wenn es auf ein reines Ehrensystem trifft. Wenn subjektive Beschwerden wie Migräne, Tinnitus oder Rückenschmerzen ohne objektive medizinische Beweise zur Basis lebenslanger Zahlungen werden, verschwimmt die Grenze zwischen berechtigtem Anspruch und opportunistischem Mitnahmeeffekt.

Der Fall des Bodybuilders Zachary Barton mag ein extremes, aber symptomatisches Beispiel sein. Ein Mann, der im Rollstuhl zur Untersuchung erschien, Windeln trug und angab, kaum 10 Pfund heben zu können, während er privat 650 Pfund an der Beinpresse stemmte. Dass solche Fälle oft erst durch anonyme Hinweise und nicht durch systemische Kontrollen auffliegen, zeigt die Blindheit des Apparats. Die internen Kontrollmechanismen sind schwach, die Strafverfolgung selten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das System leicht zu plündern ist – teilweise sogar von den eigenen Mitarbeitern, die ihre Insiderkenntnisse nutzen, um Akten zu fälschen.

Der politische Brandbeschleuniger

Die Politik, weit davon entfernt, korrigierend einzugreifen, hat Öl ins Feuer gegossen. Mit dem Pact Act von 2022 wurden die Schleusen endgültig geöffnet. Das Gesetz, das eigentlich Veteranen helfen sollte, die toxischen Dämpfen aus Müllverbrennungsgruben ausgesetzt waren, führte das Konzept der präsumtiven Bedingungen ein. Das heißt: Wer dort war und krank ist, muss nicht mehr beweisen, dass der Dienst die Ursache ist.

Das Resultat war vorhersehbar. Anträge für Allerweltsleiden wie Bluthochdruck schossen in die Höhe. Bis 2024 wurden mehr als 750.000 Fälle von hypertensiven Gefäßerkrankungen anerkannt. Kritiker, selbst kriegsversehrte Veteranen, nennen das Gesetz ein Desaster, weil es erlaubt, die Wechselfälle des normalen Lebens dem Staat in Rechnung zu stellen – oder wie es ein Veteran formulierte: Alte, dicke Männer bekommen eben Bluthochdruck. Doch in Washington gilt Kritik an Veteranenleistungen als politischer Selbstmord. Parteigrenzen verschwimmen, wenn es darum geht, Schecks auszustellen, um vergangene Opfer zu honorieren.

Tödliche Nullen und Einsen: Das IT-Desaster

Während auf der einen Seite das Geld mit der Gießkanne verteilt wird, spielt sich in den Krankenhäusern der VA eine Tragödie ab, die technischer Natur zu sein scheint, aber menschliche Konsequenzen hat. Die Einführung der neuen elektronischen Patientenakte, ein Milliardengrab, das von Oracle und Cerner verantwortet wird, ist mehr als nur ein bürokratisches Ärgernis. Es ist eine Gefahr für Leib und Leben.

Die Berichte von der Front sind erschütternd. Patienten, die als verstorben im System auftauchen, obwohl sie lebendig vor dem Arzt sitzen. Rezepte, die im digitalen Nirwana verschwinden oder mit falschen Dosierungen versehen werden. Ein System, das so unzuverlässig ist, dass Ärzte und Apotheker angewiesen werden, Sicherheitsfunktionen zu ignorieren, weil diese mehr Fehler produzieren als verhindern.

Der Fall von Raymond Sands, einem Vietnam-Veteranen mit Lungenkrebs, steht exemplarisch für dieses Versagen. Sein Tod wurde durch eine Verzögerung bei der Antibiotika-Gabe mitverursacht – ausgelöst durch einen Systemfehler, der sein Rezept an einen völlig anderen Ort in den USA schickte. Dass die Verwaltung in Washington dennoch behauptet, die Produktivität sei gestiegen und das System funktioniere, zeugt von einem Realitätsverlust, der an Zynismus grenzt. Man hält an einem Projekt fest, dessen Kosten sich auf hunderte Milliarden belaufen könnten, getrieben von der irrigen Annahme, dass man zu viel investiert habe, um jetzt noch abzubrechen.

Die Leidtragenden sind das medizinische Personal, das in der sogenannten Alert Fatigue – der Alarmmüdigkeit – versinkt, und die Patienten. Wenn Ärzte aus Misstrauen gegenüber der Software wieder dazu übergehen, Rezepte auf Papier zu schreiben, ist das kein nostalgischer Rückfall, sondern ein Akt der Notwehr.

Der Kampf um die Belegschaft: Effizienz oder Kahlschlag?

Inmitten dieser technischen Krise plant die Verwaltung nun auch noch einen massiven Einschnitt beim Personal. Die Streichung von bis zu 35.000 Stellen im Gesundheitsbereich wird euphemistisch als Beseitigung von unbesetzten Stellen verkauft, die man angeblich nicht mehr brauche. Doch diese Logik verfängt an der Basis nicht.

Krankenschwestern und Ärzte berichten bereits jetzt von Überlastung und steigenden Wartezeiten. In San Diego warten Veteranen bis zu 90 Tage auf einen Termin für psychische Gesundheit. In einem solchen Klima Stellen zu streichen – auch wenn sie aktuell unbesetzt sind –, bedeutet, die Hoffnung auf Entlastung aufzugeben. Es zementiert den Mangel. Die Strategie scheint zu sein, den Personalbestand auf dem Papier zu bereinigen, um Effizienz zu simulieren, während die Realität in den Wartezimmern immer düsterer wird.

Dahinter verbirgt sich auch ein ideologischer Kampf um die Zukunft des öffentlichen Dienstes. Die Bestrebungen der Trump-Administration, die Rechte der Gewerkschaften zu beschneiden, stoßen auf erbitterten Widerstand. Hier prallen zwei Weltbilder aufeinander. Auf der einen Seite die Sicht Franklin D. Roosevelts, dass Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst unzulässig sind, weil man nicht gegen den Souverän streiken kann. Auf der anderen Seite die Realität einer Behörde, in der Gewerkschaften oft die einzige Instanz sind, die Whistleblower schützt.

Die Gewerkschaften sind jedoch nicht unschuldig an der verhärteten Front. Fälle, in denen Mitarbeiter, die Patienten gefährdeten oder ihre Pflichten grob verletzten, durch gewerkschaftlichen Druck im Amt gehalten wurden, liefern den Kritikern die Munition. Wenn ein Angestellter, der das Entkommen eines Psychiatrie-Patienten vertuschte, seinen Job behält und sogar Nachzahlungen erhält, wird der Arbeitnehmerschutz zur Farce. Dennoch: Ohne den Schutz der Organisation würden viele Missstände – wie die IT-Katastrophe oder der Betrug bei den Bewertungen – wohl nie ans Licht kommen, da die interne Kultur der VA oft von Einschüchterung geprägt ist.

Das psychologische Gift der Abhängigkeit

Über all diesen strukturellen und politischen Problemen schwebt eine Frage, die selten laut gestellt wird: Was macht dieses System mit den Veteranen selbst? Die massive Ausweitung der Invaliditätszahlungen schafft eine psychologische Falle. Wenn finanzielle Sicherheit davon abhängt, dass man sich so krank wie möglich präsentiert, wird Genesung zum wirtschaftlichen Risiko.

Das Rating System validiert das Leid nicht nur, es monetarisiert es. Für viele Veteranen wird der monatliche Scheck zur Bestätigung ihres Opfers, aber auch zu einer Fessel, die sie in der Rolle des Opfers hält. Anstatt Ressourcen in die Wiedereingliederung, in echte Therapie und berufliche Perspektiven zu investieren, erkauft sich die Gesellschaft mit steuerfreien Schecks ein reines Gewissen. Es ist ein goldener Käfig: bequem, sicher, aber er hindert viele daran, in ein ziviles Leben zurückzufinden.

Ein System am Kipppunkt

Wir stehen vor einem beunruhigenden Szenario: Die Zahl der lebenden Veteranen sinkt um ein Drittel, doch die Kosten für ihre Versorgung und die Zahl der Leistungsempfänger steigen exponentiell. Das System kollabiert unter seinem eigenen Gewicht. Die Kombination aus einem Ehrensystem, das Betrug fast provoziert, einer IT-Infrastruktur, die Ärzte behindert statt unterstützt, und einer Personalpolitik, die auf Kante genäht ist, ist nicht nachhaltig.

Wenn die Politik nicht den Mut aufbringt, das Bewertungssystem grundlegend zu reformieren, die technische Modernisierung ehrlich zu evaluieren und die Balance zwischen Arbeitnehmerschutz und Verantwortlichkeit neu zu justieren, wird die VA scheitern. Sie wird zu einer bloßen Auszahlungsstelle verkommen, während ihre Krankenhäuser zu Orten werden, die man besser meidet. Das wäre der ultimative Verrat an jenen, die ihren Teil des Vertrages erfüllt haben, nur um festzustellen, dass die Nation, für die sie kämpften, nicht mehr in der Lage ist, sich ehrlich um sie zu kümmern.

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