
Es ist ein Konflikt, der sich nicht mit lautem Getöse ankündigte, sondern als juristisches Grollen in den Tiefen des amerikanischen Föderalismus begann und nun, im Dezember 2025, an den Grundfesten der Republik rüttelt. In einer Gefängniszelle in Pueblo, Colorado, sitzt eine 70-jährige Frau, die für die einen eine Kriminelle, für die anderen eine politische Märtyrerin ist. Tina Peters, die ehemalige Standesbeamtin von Mesa County, verbüßt eine neunjährige Haftstrafe. Doch ihre Inhaftierung ist längst mehr als die Vollstreckung eines lokalen Urteils wegen Wahlmanipulation. Sie ist zum Kristallisationspunkt einer verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung geworden, die Präsident Donald Trump mit der vollen Wucht seines Amtes vorantreibt.
Was wir hier beobachten, ist der Versuch einer radikalen Neuvermessung der präsidialen Machtbefugnisse. Es geht nicht mehr nur um die Frage, ob eine einzelne Frau vorzeitig aus der Haft entlassen wird. Es geht um die Frage, ob das Weiße Haus die Souveränität der Bundesstaaten brechen und lokale Gerichtsurteile annullieren kann, wenn diese dem politischen Narrativ des Präsidenten widersprechen. Der Fall Peters dient als Rammbock gegen die Gewaltenteilung, geschmiedet aus neuartigen Rechtstheorien und gehärtet durch den administrativen Druck eines instrumentalisierten Justizministeriums.
Das Experiment: Eine neue Lesart der Verfassung
Im Zentrum dieses Sturms steht eine juristische These, die in ihrer Kühnheit ebenso besticht, wie sie traditionelle Verfassungsrechtler verstört. Präsident Trump verkündete am 11. Dezember 2025 auf seiner Plattform Truth Social, er gewähre Tina Peters eine „volle Begnadigung“. Das Problem dabei: Peters wurde nicht vor einem Bundesgericht verurteilt, sondern nach dem Strafrecht des Bundesstaates Colorado. Seit Gründung der Vereinigten Staaten gilt der eherne Grundsatz, dass die Begnadigungsmacht des Präsidenten, wie in Artikel II der Verfassung festgelegt, nur für Verbrechen gegen die Vereinigten Staaten – also Bundesverbrechen – gilt.

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Doch die Anwälte des Präsidenten und Peters’ Verteidiger Peter Ticktin haben diesen Konsens aufgekündigt. Sie führen eine bis dato ungetestete Interpretation ins Feld, die semantische Archäologie mit politischem Machtanspruch verbindet. Ticktins Argumentation stützt sich auf eine grammatikalische Feinheit der Gründerväter: Er postuliert, dass der Begriff „United States“ in der Verfassung zur Zeit ihrer Niederschrift nicht als singuläre, monolithische Entität verstanden wurde, sondern als Plural – als „die vereinigten Staaten“.
Nach dieser Lesart, so die Logik, umfasst die Formulierung „Verbrechen gegen die Vereinigten Staaten“ auch Vergehen gegen die einzelnen Bundesstaaten, aus denen die Union besteht. Ticktin argumentiert, es ergebe keinen Sinn, dass die Gründerväter den einzelnen Staaten die Macht hätten geben wollen, die Gnadenbefugnis des Präsidenten zu umgehen. Diese Theorie, die Ticktin selbst als „noch nie vor einem Gericht vorgebracht“ bezeichnet, dient nun als juristischer Hebel, um die Tür für Eingriffe in die einzelstaatliche Justiz aufzustoßen. Es ist der Versuch, den Föderalismus durch eine linguistische Umdeutung auszuhebeln und die einzelstaatliche Souveränität dem Willen des Oval Office unterzuordnen.
Die Waffe Justizministerium: Der administrative Belagerungszustand
Während die verfassungsrechtliche Debatte noch Theorie bleibt, schafft die Trump-Administration am Boden bereits Fakten. Das Justizministerium (DOJ), das unter Trump zunehmend als verlängerter Arm seiner politischen Agenda agiert, hat eine mehrgleisige Strategie entwickelt, um den Druck auf Colorado zu erhöhen. Es ist ein Vorgehen, das Kritiker als Weaponization – die Nutzung des Regierungsapparats als Waffe – bezeichnen, ironischerweise unter dem Deckmantel einer Executive Order, die genau diese Politisierung beenden soll.
Bereits im März 2025 intervenierte das DOJ in dem Verfahren, indem der stellvertretende Generalstaatsanwalt Yaakov M. Roth ein sogenanntes Statement of Interest bei einem Bundesgericht einreichte. In diesem bemerkenswerten Dokument argumentierte die Bundesregierung, dass begründete Bedenken hinsichtlich verschiedener Aspekte von Peters’ Fall bestünden. Roth kritisierte die außergewöhnlich lange Haftstrafe von neun Jahren und stellte die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, Peters während ihrer Berufung die Kaution zu verweigern, als willkürlich oder unangemessen dar.
Doch der Druck beschränkt sich nicht auf juristische Schriftsätze. In einer offensichtlichen Eskalation leitete die Bürgerrechtsabteilung des Justizministeriums unter der Leitung der Trump-Unterstützerin Harmeet K. Dhillon eine zivilrechtliche Untersuchung gegen das Gefängnissystem von Colorado ein. Offiziell geht es um die Prüfung der medizinischen Versorgung und der sanitären Bedingungen. Politisch betrachtet wirkt dieser Schritt wie eine kaum verhüllte Drohung: Wer nicht kooperiert, muss mit der vollen inquisitorischen Macht der Bundesbehörden rechnen. Dass diese Untersuchung zeitgleich mit den Forderungen nach Peters’ Freilassung verkündet wurde, wird von Beobachtern als Versuch gewertet, den Staat Colorado durch administrative Schikanen mürbe zu machen.
Parallel dazu versuchte das Bundesgefängnisbüro (Bureau of Prisons), Peters aus der staatlichen Haftanstalt in die Obhut des Bundes zu überführen. Die Begründung blieb vage, doch Peters’ Anwälte und Unterstützer hatten zuvor argumentiert, sie sei in der allgemeinen Haft gefährdet und benötige den Schutz einer Bundesanstalt, um als Zeugin in Untersuchungen zur Wahl 2020 zur Verfügung zu stehen. Dieser Vorstoß scheiterte am Widerstand der Behörden in Colorado, die feststellten, dass Peters weder in Gefahr sei noch eine Gefahr für andere darstelle und somit die Kriterien für eine Überstellung nicht erfülle.
Täterin oder Märtyrerin? Die Inszenierung einer Kriminellen
Der Kontrast zwischen der juristischen Realität des Falls und seiner politischen Inszenierung könnte kaum schärfer sein. In der Echokammer der MAGA-Bewegung und auf Trumps Plattform Truth Social wird Tina Peters als mutige und unschuldige Patriotin und politische Gefangene gefeiert, die nichts Falsches getan habe, außer den vermeintlichen Wahlbetrug der Demokraten aufzudecken. Ihre Unterstützer zeichnen das Bild einer kranken, 70-jährigen Frau, die in Einzelhaft leidet und deren Gesundheit sich rapide verschlechtert – eine Erzählung, die gezielt auf emotionale Mobilisierung setzt.
Die Fakten, die im Gerichtssaal in Grand Junction präsentiert wurden, erzählen eine gänzlich andere Geschichte. Eine Jury befand Peters in sieben von zehn Anklagepunkten für schuldig, darunter Amtsmissbrauch und Verschwörung. Bewiesen wurde, dass sie im Mai 2021 Conan Hayes, einen ehemaligen Profi-Surfer und angeblichen Computerexperten, unter falscher Identität und mit dem Sicherheitsausweis eines anderen Mitarbeiters in geschützte Bereiche ihrer Behörde geschleust hatte. Hayes kopierte Passwörter und proprietäre Software von Dominion-Wahlmaschinen, Daten, die später auf einem Symposium des Verschwörungstheoretikers Mike Lindell im Internet auftauchten.
Richter Matthew D. Barrett fand bei der Urteilsverkündung deutliche Worte für Peters’ Verhalten. Er nannte sie eine Scharlatanin, die ihre Position missbraucht habe, um Schlangenöl zu verkaufen – Lügen über Wahlbetrug, die immer wieder widerlegt wurden. Barrett betonte, dass Peters keineswegs eine Heldin sei, sondern eine Person, die lügt, so leicht wie sie atmet. Er begründete das harte Strafmaß explizit damit, dass Peters ihre Lügen weiterhin verbreite und zur Berühmtheit unter Wahlleugnern geworden sei. Selbst vor Gericht zeigte sie keine Reue, sondern verstrickte sich in wirre Anschuldigungen gegen den Staatsanwalt und behauptete weiterhin, sie habe nur versucht, Betrug aufzudecken.
Die Festung Colorado: Wenn Föderalismus zum Widerstand wird
Gegen die Angriffe aus Washington hat sich in Colorado eine überparteiliche Allianz formiert, die den Föderalismus verteidigt. Gouverneur Jared Polis, ein Demokrat, wies Trumps Begnadigungsvorstoß nüchtern, aber bestimmt zurück: Kein Präsident hat die Zuständigkeit für staatliches Recht noch die Macht, eine Person für staatliche Verurteilungen zu begnadigen. Auch der Versuch, Peters in Bundesgewahrsam zu verlegen, wurde von seiner Verwaltung blockiert.
Interessanterweise ist der Widerstand in Colorado nicht rein parteipolitisch motiviert. Der Bezirksstaatsanwalt von Mesa County, Dan Rubinstein, der die Anklage gegen Peters führte, ist Republikaner. Er betonte, dass es sich um ein Verbrechen von lokalem Interesse handele und dass die Gemeinde das Recht habe, Straftäter ohne Einmischung von außen zur Rechenschaft zu ziehen. Rubinstein und Generalstaatsanwalt Phil Weiser bezeichneten das Eingreifen des Justizministeriums als nackten politischen Versuch, das Gericht einzuschüchtern.
Dennoch hinterlässt der Druck Spuren. Die Rhetorik des Präsidenten, der Gouverneur Polis als Sleazebag (Schmierlappen) beschimpfte und mit harschen Maßnahmen drohte, schafft ein Klima der Bedrohung. Staatsanwalt Rubinstein berichtete, er habe bis zur Einreichung der Gerichtsdokumente keine Ahnung gehabt, dass das DOJ seinen Fall überprüfe – ein Vorgang, der die übliche kollegiale Zusammenarbeit zwischen Bundes- und Staatsanwaltschaften untergräbt.
Das Signal für 2026: Straffreiheit als politische Währung
Die Bedeutung des Falls Tina Peters reicht weit über ihr persönliches Schicksal hinaus. Er ist eingebettet in eine breitere Kampagne des Präsidenten, die Geschichte der Wahl 2020 umzuschreiben und jene zu rehabilitieren, die ihm bei dem Versuch halfen, das Ergebnis zu kippen. Die Begnadigung Peters’ steht in direkter Linie zu den fast 1.600 Begnadigungen, die Trump für die Angeklagten des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar 2021 ausgesprochen hat. Es ist der Versuch, Loyalität über Rechtsstaatlichkeit zu stellen.
Experten und Wahlbeamte blicken mit Sorge auf die Zwischenwahlen 2026. Das Signal, das von einer erfolgreichen Befreiung Peters’ ausgehen würde, wäre verheerend: Es würde bedeuten, dass Wahlbeamte, die im Sinne des Präsidenten Gesetze brechen und Sicherheitsprotokolle verletzen, auf den Schutz des Weißen Hauses zählen können. Es etabliert eine Kultur der Straflosigkeit für ideologisch motivierte Kriminalität im Wahlsystem. Wahlleiter aus dem ganzen Land, die seit Jahren Bedrohungen und Belästigungen ausgesetzt sind, warnen, dass dies jene ermutigen könnte, die künftige Wahlen manipulieren wollen.
Die Strategie der Trump-Administration zielt darauf ab, durch eine Kombination aus rechtlicher Alchemie – der Umdeutung der Begnadigungsmacht – und roher administrativer Gewalt die staatlichen Institutionen so lange zu beschießen, bis sie nachgeben. Sollte der Oberste Gerichtshof der Argumentation von Trumps Anwälten folgen oder auch nur eine einstweilige Verfügung erlassen, die Peters freisetzt, wäre dies ein fundamentaler Bruch im amerikanischen Staatsgefüge. Es würde bedeuten, dass das Konzept der States’ Rights, traditionell ein konservatives Mantra, nur noch dann gilt, wenn es der Agenda des Präsidenten dient.
Ein System am Kipppunkt
Der Fall Tina Peters ist mehr als eine juristische Kuriosität; er ist ein Stresstest für die amerikanische Demokratie. Er zeigt, wie fragil die Grenzen zwischen den Gewalten sind, wenn sie von einer Exekutive herausgefordert werden, die bereit ist, jede Norm zu brechen. Während Peters in ihrer Zelle auf Rettung hofft und ihre Anwälte von der 101. Luftlandedivision fantasieren, die sie befreien könnte, steht draußen die Integrität des Wahlsystems auf dem Spiel.
Die Trump-Regierung versucht, durch die Hintertür der Exekutivmacht einen Schattenstaat zu errichten, in dem Loyalität wichtiger ist als Gesetzessicherheit. Wenn lokale Verbrechen durch einen Federstrich in Washington ungeschehen gemacht werden können, verlieren lokale Wahlen und lokale Gerichte ihre Bedeutung. Es ist, als würde man dabei zusehen, wie das Fundament des föderalen Hauses Stein für Stein abgetragen wird – nicht durch einen einzigen großen Schlag, sondern durch viele kleine, gezielte Hiebe, ausgeführt im Namen einer Gerechtigkeit, die nur noch dem Machterhalt dient. Ob die Mauern von Colorado und der Verfassung diesem Ansturm standhalten, wird darüber entscheiden, wie frei die nächsten Wahlen in Amerika tatsächlich noch sein können.


