
Man liest, und einem wird eng um die Brust. Es ist das Gefühl, Zeuge eines historischen Erdrutsches zu werden, während der Boden unter den Füßen noch trügerisch still wirkt. In Washington, im vergoldeten Oval Office, hat Donald Trump seine dicke, schwarze Filzer-Unterschrift unter ein Dokument gesetzt, das weit mehr ist als eine bürokratische Neuausrichtung. Es ist eine ideologische Kriegserklärung an den alten Kontinent. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA vollzieht einen Bruch, der tiefer kaum sein könnte: Amerika sieht in Europa keinen Partner mehr, sondern einen „Saustall“, der ausgemistet gehört.
Was sich in den 33 Seiten des Papiers entfaltet, das ohne großes Medien-Trara, fast heimlich in der Nacht auf der Website des Weißen Hauses hochgeladen wurde, ist das Ende der westlichen Wertegemeinschaft, wie wir sie kannten. Es ist der Moment, in dem die Masken fallen und eine nackte, feindselige Realität zum Vorschein kommt, die europäische Diplomaten hinter vorgehaltener Hand nur noch mit einem Wort beschreiben: „irre“.
Die Wiederkehr der Monroe-Doktrin und der Abschied vom Westen
Um die Wucht dieses Schlages zu verstehen, muss man tiefer blicken als auf die üblichen Zölle und Drohungen. Es geht um das fundamentale Weltbild einer neuen amerikanischen Elite. Der „kulturelle Westen“, jene transatlantische Klammer aus Demokratie, Menschenrechten und Völkerrecht, wird von der Trump-Administration de facto aufgekündigt. An seine Stelle tritt eine radikalisierte Form der Monroe-Doktrin: Die USA beanspruchen nicht nur die Vorherrschaft über die westliche Hemisphäre, sie definieren Souveränität neu.

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Der ideologische Motor dieser Wende ist der Nationalkonservatismus, maßgeblich beeinflusst von Vordenkern wie Yoram Hazony. In dieser Lesart ist die Europäische Union kein Friedensprojekt, sondern ein illegitimes Imperium, das den Nationen die Luft zum Atmen nimmt. Während Europa seine Identität auf der Überwindung des Nationalismus aufbaute – im Glauben, dass dieser zwangsläufig in die Katastrophe führt –, sehen die neuen Herren in Washington im Nationalismus den einzigen Garanten für Freiheit und Innovation. Sie verwerfen das Erbe Immanuel Kants und Konrad Adenauers und erklären die Ära der Überwindung des Nationalstaates für einen historischen Großirrtum.
Die Konsequenz dieser Umwertung ist brutal: Europa steht in den Augen der US-Strategen vor der „zivilisatorischen Auslöschung“. Durch Migration, Bürokratie und Zensur, so das Narrativ, richte sich der Kontinent selbst zugrunde. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Denn aus dieser Diagnose leitet Washington nicht etwa den Impuls zur Hilfe ab, sondern den Auftrag zur Disruption.
Regime Change bei Verbündeten
Der wohl schockierendste Passus des Papiers ist die unverhohlene Ankündigung, politischen „Widerstand“ innerhalb der EU-Staaten zu kultivieren. Das Weiße Haus plant, aktiv gegen zentristische Regierungen vorzugehen – gegen Politiker wie Emmanuel Macron, Keir Starmer oder Friedrich Merz. Ziel ist es, „Patrioten“ an die Macht zu bringen, die das Weltbild des MAGA-Amerikas teilen: Figuren wie Marine Le Pens Ziehsohn Jordan Bardella, den Brexit-Pionier Nigel Farage oder Alice Weidel.
Donald Trump spricht es offen aus: Die europäischen Nationen würden „zugrunde gehen“, geführt von „schwachen“ Leuten. Es ist der Versuch eines politischen Umsturzes von außen, legitimiert durch die Wahnvorstellung, die westliche Zivilisation vor sich selbst retten zu müssen. Dass Elon Musk bereits digital bei AfD-Veranstaltungen auftritt und JD Vance demonstrativ Alice Weidel trifft, sind keine Ausrutscher, sondern Vorboten einer systematischen Strategie. Die USA positionieren sich als Schirmherr einer globalen Rechten, die mit Kettensäge und bebender Stimme dem Establishment den Garaus machen will.
Die neue geopolitische Landkarte: Russland als Partner, Europa als Gegner?
Die Perfidie dieser Strategie zeigt sich besonders im Kontrast zum Umgang mit den tatsächlichen Autokratien dieser Welt. Während Europa als dem Untergang geweihtes Problemfall markiert wird, strebt Washington mit Moskau eine pragmatische „strategische Stabilität“ an. Der Kreml reagierte prompt mit Wohlwollen; Wladimir Putins Sprecher ließ verlauten, das Papier entspreche „absolut unserer Sichtweise“. Kein Wunder: Russland wird nicht mehr als systemischer Rivale betrachtet.
Auch China kommt erstaunlich glimpflich davon. Peking wird zum reinen wirtschaftlichen Wettbewerber herabgestuft, dem man lediglich „Fairplay“ beibringen müsse. Der systemische Konflikt, den Europa so fürchtet, wird in Washington abgesagt. Stattdessen richtet sich der ideologische Furor gegen Brüssel. Es ist eine Welt, in der Trump Chinas KP modernste Halbleiter liefert und sich von Putin bezirzen lässt, während er Europa die kalte Schulter zeigt.
Das europäische Schlafwandeln
Wie reagiert Europa auf diese existenzielle Bedrohung? Mit einer Mischung aus Schwermut, Verleugnung und lähmender Bürokratie. Seit über zehn Jahren üben sich die europäischen Eliten im Wegsehen. Von Obamas „Hinwendung zu Asien“ bis zu JD Vances offenen Warnungen wurde jede rote Lampe ignoriert. Man redete sich ein: „Es wird so schlimm schon nicht kommen“, während es immer schlimmer kam.
Selbst jetzt, wo die Drohung schwarz auf weiß vorliegt, regiert vielerorts die Hilflosigkeit. London flüchtet sich in Floskeln über die nationale Erneuerung, Paris sieht sich in seiner Autonomie-Forderung bestätigt, doch die Mittel fehlen an allen Ecken und Enden. Der europäische Modus Operandi – das Drehen an „feinen Schräubchen“, die Politik der kleinen Schritte – funktioniert angesichts eines Gegners, der den Hammer schwingt, nicht mehr.
Besonders fatal wirkt diese Schwäche beim Thema Ukraine. Dem Land geht das Geld aus, und Europa verheddert sich in internen Blockaden. Die Idee, die eingefrorenen russischen Vermögen für einen Kredit zu nutzen, scheitert bislang am Widerstand Belgiens und der Angst vor juristischen Risiken. Wenn Friedrich Merz seinen Antrittsbesuch in Norwegen absagen muss, um in letzter Minute in Brüssel zu verhandeln, zeigt das, wie sehr der Kontinent am Limit operiert. Sollte diese Finanzierung scheitern, droht genau jenes Szenario, das Trump prophezeit: ein wirtschaftlich und politisch implodierendes Europa, unfähig, sich selbst zu verteidigen.
Die Illusion der amerikanischen Überdehnung
Es gibt in Berlin und Brüssel die Hoffnung, dass die Suppe nicht so heiß gegessen wird, wie sie gekocht wurde. Man verweist auf die operative Überdehnung der USA: Trump verzettelt sich in Venezuela, im Nahen Osten und sieht sich zu Hause schlechten Umfragen für die Zwischenwahlen gegenüber. Wie soll eine Regierung, die schon an ihren eigenen Grenzen scheitert, in Europa Regime Changes durchführen? Es ist verlockend, das Strategiepapier als „wütende Fantasie“ abzutun, geprägt von wenig Kenntnis.
Doch diese Hoffnung ist gefährlich. Sie ist Teil jener Verleugnung, die den Kontinent erst in diese Lage gebracht hat. Denn auch wenn Trump nicht jeden Plan umsetzt, so legitimiert seine Rhetorik doch jeden Angriff auf die liberale Demokratie. Wenn der US-Präsident sagt, Europas Führung wisse nicht, was sie tue, gibt das jedem Populisten von Paris bis Budapest Rückenwind.
Zeit für radikale Antworten
Wer die liberale Demokratie erhalten will, muss sich vom Status quo verabschieden. Die Zeiten der ostentativen Gelassenheit sind vorbei. Europa braucht den Mut zu großen, fast tollkühnen Schritten. Wenn Amerika seinen Schutzschirm infrage stellt, muss Europa über einen eigenen Atomschirm diskutieren – eine Last, die Frankreich und Großbritannien nicht allein tragen können, sondern die auch Deutschland fordern wird.
Die Samthandschuhe gegenüber internen Saboteuren müssen ausgezogen werden. Wenn Ungarn Bemühungen gegen Russland hintertreibt, muss der Entzug des Stimmrechts auf den Tisch. Eingefrorene russische Gelder müssen konfisziert werden – klagen können die Russen später immer noch. Und auf amerikanische Zölle muss mit gleicher Münze geantwortet werden.
Es ist möglich, sich zu wehren. Doch dafür muss man sich eingestehen, dass die alten Gewissheiten tot sind. Schwierige Partner wie Giorgia Meloni sind keine Gegner, mit denen lässt sich arbeiten. Aber eine US-Regierung, die den „Widerstand“ gegen unsere demokratische Ordnung fördert, ist kein Verbündeter mehr. Was vor uns liegt, sind harte, gefährliche Jahre. Wer das nicht ausspricht und stattdessen weiter auf das Prinzip Hoffnung setzt, macht sich zum Komplizen seines eigenen Untergangs. Es ist an der Zeit, dass Europa erwacht – bevor es endgültig zum Opfer wird.


