Der kalte Krieg unter Palmen: Wie Mexiko zur Operationsbasis russischer Spione gegen die USA wurde

Illustration: KI-generiert

Es ist ein offenes Geheimnis, das durch die belebten Straßen von Mexiko-Stadt weht, vorbei an den prächtigen Kolonialbauten und hinein in die modernen Glaspaläste der Diplomatie: Das Land hat sich verwandelt. Was einst im 20. Jahrhundert als das „Wien Lateinamerikas“ galt – ein neutraler Boden, auf dem sich die Agenten der Weltmächte bei einem Mezcal belauerten –, ist heute zu etwas weitaus Bedrohlicherem mutiert. Mexiko ist nicht mehr nur Bühne, sondern Startrampe. Während in Europa nach der Invasion der Ukraine die Reihen der russischen Geheimdienste durch massive Ausweisungen gelichtet wurden, finden Moskaus Spione südlich des Rio Grande nicht nur Zuflucht, sondern einen operativen Rückzugsort, von dem aus sie den Hauptgegner USA ins Visier nehmen. Die geografische Nähe, gepaart mit einer politischen Kultur, die Wegschauen zur Staatsräson erhoben hat, schafft ein explosives Gemisch, das die Sicherheitsarchitektur Nordamerikas fundamental herausfordert.

Die Geografie der Schatten: Warum Mexiko?

Um zu verstehen, warum der Kreml seine Ressourcen so massiv nach Mexiko verlagert, muss man auf die Landkarte schauen – und auf die Psychologie der Grenze. US-Geheimdienstveteranen bringen es auf eine simple Formel: Nähe ist alles. Mexiko bietet den unschätzbaren logistischen Vorteil, direkt an die Vereinigten Staaten anzugrenzen, ohne den strengen Überwachungsmechanismen unterworfen zu sein, die in den USA selbst oder im engen Partnerland Kanada greifen. Hier, im Süden, operieren russische Dienste mit einer Straflosigkeit, die ihnen im Norden längst verwehrt ist.

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Doch es ist nicht nur die Grenze, es ist die Tarnung durch die Masse. Millionen Amerikaner strömen jährlich als Touristen an die Strände von Cancún oder Cabo San Lucas. In diesem Meer aus Urlaubern können russische Agenten und ihre amerikanischen Kontaktpersonen unauffällig untertauchen. Ein Treffen zwischen Surfbrettern und Sonnenliegen erregt keinen Verdacht. Es ist die perfekte Symbiose aus Entspannung und Spionage: Während die Touristen die Sonne genießen, werden Informationen ausgetauscht oder neue Instruktionen an Quellen übergeben, die eigens aus den USA eingeflogen werden. Diese touristische Infrastruktur dient als natürlicher Schutzschild gegen die Überwachungssysteme der USA, die im Inland zwar allgegenwärtig, jenseits der Grenze jedoch blind sind.

Das diplomatische Ungleichgewicht

Ein Blick auf die nackten Zahlen offenbart das ganze Ausmaß der Schieflage, die US-Beamte so alarmiert. Die russische Botschaft in Mexiko-Stadt gleicht einer Festung, deren Besatzung in keinem rationalen Verhältnis zu den tatsächlichen Beziehungen steht. Während Mexiko in Moskau gerade einmal 16 Diplomaten unterhält, hat Russland offiziell 85 Diplomaten in Mexiko akkreditiert. Diese Diskrepanz ist eklatant, zumal die wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen zwischen beiden Nationen minimal sind.

US-Beamte sehen darin den klaren Beweis, dass diese diplomatische Überpräsenz nicht dem kulturellen Austausch dient, sondern der Intelligence-Arbeit. Nachdem die USA und Europa nach dem Überfall auf die Ukraine und früheren Vorfällen wie Giftanschlägen in Großbritannien hunderte russische Spione ausgewiesen hatten, wurden viele dieser enttarnten Agenten schlichtweg umgruppiert. Mexiko wurde zum Auffangbecken für erfahrene Spione, die in Europa nicht mehr operieren konnten. Es ist, als hätte man ein Wespennest in Europa ausgeräuchert, nur damit sich der Schwarm im Garten des Nachbarn neu formiert.

Der menschliche Faktor: Tragödie eines Wissenschaftlers

Wie diese abstrakte Bedrohung konkret aussieht, zeigt der Fall von Hector Alejandro Cabrera Fuentes auf beklemmende Weise. Fuentes war kein klassischer Agent, kein Mann aus den Schatten, sondern ein anerkannter Herzforscher, der in Singapur arbeitete. Doch er hatte eine Verwundbarkeit, die der russische Geheimdienst brutal ausnutzte: eine russische Ehefrau und zwei Töchter, die in Russland festsaßen und denen die Ausreise verweigert wurde.

Die Rekrutierungsmethode war ein Lehrstück in Zwang und emotionaler Erpressung. Ein russischer Beamter kontaktierte Fuentes bei einem Familienbesuch in Moskau und machte ihm ein Angebot, das er kaum ablehnen konnte: Man könne einander helfen. Die Freiheit seiner Familie wurde gegen Spionagedienste getauscht. Fuentes wurde angewiesen, in Miami ein Apartment anzumieten, um einen dort lebenden US-Informanten auszuspähen, der Washington Informationen über russische Aktivitäten lieferte.

Die Banalität des Bösen zeigte sich in der Ausführung: Fuentes, kein geschulter Spion, flog mit seiner anderen mexikanischen Ehefrau nach Miami. Beim Versuch, das Fahrzeug des Ziels zu fotografieren, wurden sie von einem Sicherheitsdienst gestoppt. Als US-Grenzschützer später am Flughafen ihre Telefone kontrollierten, fanden sie das Bild des Nummernschilds im Ordner kürzlich gelöscht. Fuentes legte ein Geständnis ab und wurde verurteilt. Sein Fall demonstriert, wie Russland Zivilisten instrumentalisiert und familiäre Bindungen als Waffe einsetzt – eine Methode, die ebenso rücksichtslos wie effektiv ist.

Die Mauer des Schweigens: Politik und Paranoia

Die Reaktion der mexikanischen Regierung auf diese Entwicklungen gleicht einem diplomatischen Achselzucken, das in Washington für wachsende Frustration sorgt. Als US-General Glen VanHerck öffentlich warnte, dass sich in Mexiko die weltweit größte Konzentration von GRU-Agenten befinde, wischte der damalige Präsident Andrés Manuel López Obrador dies als bloße Behauptung vom Tisch und erklärte, man habe keine Informationen dazu.

Doch hinter den Kulissen hatten US-Behörden längst Fakten geliefert. Die CIA hatte sogar eine Liste mit über zwei Dutzend Namen russischer Spione erstellt, die unter diplomatischer Tarnung operierten. Diese Liste wurde der mexikanischen Regierung übergeben – doch die Reaktion war ernüchternd. Mal hieß es, man habe die Liste nie erhalten, mal wurde sie als zu vage abgetan oder von rangniedrigen Beamten verlegt.

Diese Haltung ist kein Zufall, sondern Symptom einer tiefen ideologischen Kluft. Die regierende Morena-Partei, der sowohl López Obrador als auch seine Nachfolgerin Claudia Sheinbaum angehören, pflegt traditionell eine Skepsis gegenüber den USA und sympathisiert mit linken Bewegungen, die in Russland oft noch immer das Erbe der Sowjetunion sehen. Diese ideologische Ausrichtung, gepaart mit einer Doktrin der Neutralität, führt dazu, dass Mexiko russische Aktivitäten toleriert, die in Europa längst zu diplomatischen Krisen geführt hätten. Selbst als hochrangige US-Diplomaten wie Wendy Sherman direkt intervenierten und klarstellten, dass die Russen ein Problem seien, wurden sie abgewimmelt.

Die neue Präsidentin Sheinbaum scheint diesen Kurs der stillschweigenden Duldung fortzusetzen. Zwar stimmte Mexiko in der UN für die Souveränität der Ukraine, verweigerte aber Sanktionen und pflegt weiterhin warme Beziehungen zu Moskau. Während Sheinbaum Treffen mit ukrainischen Vertretern mied, traf sich ihr Außenminister herzlich mit seinem russischen Amtskollegen. Es zeichnet sich eine Kontinuität ab, die Washington wenig Hoffnung auf einen Kurswechsel gibt.

Institutionelle Blindheit und neue Fronten

Das Problem liegt jedoch nicht nur im politischen Willen, sondern auch in der institutionellen Fähigkeit. Mexikos Sicherheitsapparat ist fast obsessiv auf den inneren Krieg gegen die Drogenkartelle fokussiert. Für Spionageabwehr fehlen oft Ressourcen, Erfahrung und Fokus. Diese institutionelle Schwäche macht das Land extrem anfällig. Russland nutzt diese Lücke nicht nur für Operationen gegen die USA, sondern weitet seinen Einfluss im Land selbst aus.

Experten warnen vor einer massiven Zunahme russischer Desinformation, die darauf abzielt, die mexikanische Bevölkerung gegen die USA und Europa aufzuwiegeln. Die Situation ist so ernst, dass die US-Botschaft in Mexiko-Stadt eigens die Position eines Russia Watcher geschaffen hat, um die Aktivitäten Moskaus zu überwachen – ein Schritt, dem auch die französische Botschaft mit einem Offizier für Desinformationsbekämpfung folgte.

Gleichzeitig öffnet die Migrationskrise an der Grenze ein weiteres potenzielles Einfallstor. Inmitten der Hunderttausenden, die Asyl suchen, fürchten US-Behörden, dass Russland Agenten einschleusen könnte. Zwar versprach Mexiko, russische Asylbewerber genauer zu prüfen, doch angesichts der dokumentierten Unwilligkeit, gegen bekannte Spione vorzugehen, bleibt das Vertrauen in diese Zusagen brüchig.

Das zertrümmerte Vertrauen

Das Verhältnis der Sicherheitsbehörden ist zudem durch die Vergangenheit belastet. Die Verhaftung des ehemaligen mexikanischen Verteidigungsministers General Cienfuegos durch US-Behörden im Jahr 2020 wegen angeblicher Kartell-Verbindungen führte zu einer schweren Vertrauenskrise. Obwohl die diplomatische Krise oberflächlich abgewendet wurde, hat der Vorfall die Kooperation im Sicherheitsbereich nachhaltig beschädigt und das Misstrauen gegenüber US-Interventionen – und damit auch gegenüber US-Warnungen vor Russland – vertieft.

Russland versteht es meisterhaft, in diese Kerbe zu schlagen. Hochrangige Funktionäre wie Nikolai Patruschew bereisen die Region und beschwören den Kampf für die wahre Souveränität Lateinamerikas. Sie framen ihre Präsenz als Unterstützung gegen den US-Imperialismus, eine Melodie, die in den Ohren vieler Morena-Anhänger wohlklingt. Freundschaftskomitees im mexikanischen Kongress zementieren diese Narrative weiter.

Fazit: Ein Riss im Kontinent

Was wir in Mexiko beobachten, ist mehr als nur ein lokales Sicherheitsproblem. Es ist die Eröffnung einer neuen Front in einem globalen Konflikt. Mexiko läuft Gefahr, seine Souveränität nicht durch US-Einmischung zu verlieren, sondern dadurch, dass es sein Territorium als Schlachtfeld fremder Mächte zur Verfügung stellt. Die russische Strategie ist klar: Wenn die USA der Ukraine helfen, bringt Moskau den Konflikt vor die amerikanische Haustür.

Die Wiederbelebung der Monroe-Doktrin durch US-Hardliner, die Washingtons Vorherrschaft in der Hemisphäre betonen, könnte die mexikanische Abwehrhaltung dabei noch verstärken. Es ist ein Teufelskreis aus Misstrauen, historischem Groll und geopolitischem Kalkül. Solange Mexiko-Stadt die Augen vor den Schatten in seinen Straßen verschließt, wird der kalte Krieg unter Palmen weiter eskalieren – mit ungewissem Ausgang für die Sicherheit des gesamten Kontinents.

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